Ins Schwarze treffen: das wollen wir in gewisser Weise alle, wenn wir mit anderen sprechen. Gemeint ist damit, die eigenen Gedanken und Anliegen so zu vermitteln, dass der andere sie versteht und sich nach Möglichkeit auch mit ihnen einverstanden zeigt.
Die in der Gesellschaft aktuell vorherrschenden Diskussionsthemen sind jedoch brisant und schon die Titel markieren Positionen: Ausstieg aus der Pandemie, klimaneutrales Leben, Migrationspolitik, Ehe für alle, Menschenrechte, Freiheit … Alle diese Themen besitzen etwas Gemeinsames: Sie bringen Unbekanntes und Unvorhersehbares mit sich und haben sich in kürzester Zeit zu polemisch eingesetzten Schlagworten entwickelt, die bewegen und verunsichern, sogar verängstigen können. Wer hier leise spricht, Fragen stellt und versucht, ruhig und redlich zu argumentieren, hat meist schon verloren. Der Ton ist rau geworden, das Fragenstellen unbequem und das Andersdenken verpönt, es wird vorsorglich schon im Keim erstickt. Dabei wäre doch das Gegenteil hilfreich. Schliesslich verdienen es die genannten Themen, kritisch hinterfragt und auf differenzierte Art diskutiert werden.
Der vorliegende Text geht der Frage nach, wie es uns gelingen könnte, wieder zu einem methodisch geregelten und inhaltlich bereichernden Diskurs zurückzufinden. Zu einem Diskurs, bei dem ein leises Sprechen und ein kritisches Hinterfragen begrüsst und gepflegt werden. Zu einem Diskurs, aus dem man gestärkt und nicht niedergeschlagen hervorgeht. Zu einem Diskurs, der nicht auf den als Gegner verstandenen Gesprächspartner zielt, sondern auf einen sachlich begründeten Konsens. Ein redlicher Diskurs ist eine wichtige Disziplin der Kommunikation, welche Aufmerksamkeit, Sorgfalt und Übung benötigt.
In einer Zeit der sich laufend übertreffenden Nachrichten, welche oftmals mehr Irritation als Information bieten und Unsicherheiten schüren, ist es nicht verwunderlich, dass Menschen ein stärkeres Bedürfnis haben, sich anderen mitzuteilen. Es geht darum, die eigene Meinung, den eigenen Standpunkt darzulegen, Zustimmung oder Unmut gegenüber dem gerade Geschehenen zu verkünden und die anderen von der Richtigkeit der eigenen Sichtweise zu überzeugen. Gleich zu Beginn tauchen hier zwei Schwierigkeiten auf, welche meist unbemerkt mitschwingen: Die Informationen werden für Fakten und die Meinungen für Wahrheiten gehalten. Diese Verwechslung der Begriffe geschieht unbewusst und bildet somit eine äusserst ungünstige Ausgangslage für ein Gespräch. Je mehr uns die Ereignisse betreffen und je mehr Bedeutung wir ihnen für uns und die uns nahestehenden Menschen beimessen, desto stärkere Emotionen kommen ins Spiel, desto hitziger wird der eigene Standpunkt verteidigt. Geradezu prädestiniert für derartige Eskalationen sind Fragen der Gesundheit und der Sicherheit, wie auch immer diese beiden Begriffe definiert oder genauer verstanden werden. Als Individuen neigen wir naturgemäss dazu, die Situation aus dem eigenen Blickwinkel zu sehen und die eigenen Interessen zu verfolgen. Dies gilt auch dann, wenn wir unsere Perspektiven und Absichten im Namen der Solidarität und Gemeinschaft deklarieren. Wir erheben Anspruch darauf, dass der andere uns verstehen müsse, sind wir selbst doch davon überzeugt, dass wir die Sache durchblicken, dass wir wissen, was richtig und falsch ist (nicht nur für uns, sondern für alle), dass wir die beste Lösung, sogar die Wahrheit kennen. Allzu schnell wird die eigene Meinung für wahr erklärt und hiervon abweichende Auffassungen als falsch oder gar nichtig abgewertet. Hier könnte das Gespräch zum Offenlegen der unterschiedlichen Standpunkte ansetzen, zum Austausch der Gedanken und zu einer Bereicherung im Sinne des Erfahrens der Argumente des anderen beitragen, welche allen Beteiligten neue Sichtweisen eröffnen würden. Diese liessen sich in einem fruchtbaren Diskurs kritisch hinterfragen. Die Differenzen könnten verdeutlicht, ein Verstehen ermöglicht werden, ohne damit einverstanden sein zu müssen. Die Gesprächspartner würden mit Gewinn aus dem Diskurs hervorgehen, weil sie die andere Sicht sowie deren Gründe erfahren, weil sie mehr wissen als zuvor und nicht, weil sie den Gegner besiegt und mundtot gemacht haben.
Ins Schwarze treffen hat in der Kommunikation eine ganz andere Bedeutung: Nicht den Anspruch zu haben, auf die Wahrheit zu zielen und diese genau zu treffen, sondern wie ein Schütze zu trainieren, den Bogen immer wieder zu spannen und die Technik des Dialogs ständig zu verfeinern.
Der Begriff Diskurs stammt vom lateinischen Wort discurrere, was etwa so viel wie „umherlaufen“ bedeutet. Umgangssprachlich wird von „Diskurs“ gesprochen, wenn Debatte, Diskussion oder – noch allgemeiner – irgendeine Art von themenbezogenem Gespräch gemeint ist. Das Ziel eines Diskurses ist nicht, dass am Schluss alle dasselbe denken. Es geht darum, die Themen zu umkreisen, sie von vielen Seiten zu beleuchten und zu diskutieren. Unterschiedliche Meinungen und Theorien können bestehen, ohne dass auch nur eine davon wahr wäre und dass alle, die diese nicht unterstützen, schon vorsorglich in einer Schublade der Gegner, Lügner oder zumindest Skeptiker landen. Wenn es nur eine Wahrheit gibt und ein Andersdenken nicht erwünscht oder sogar nicht zulässig ist, wird die Welt flach und grau, wenn nicht noch dunkler. Welch eine Landschaft ohne Hügel, Täler, Wassergräben, Gegenwind, Licht und Schatten! Hier existiert kein Diskurs, hier herrscht die Einöde. Es gibt nur eine Strasse und alle fahren nur in einer Richtung. Die Pfeile sind giftig und zielen auf den Andersdenkenden. Dies ist eine trügerisch vereinfachte Art zu leben. Es gibt nur das eine, das Richtige, für alle Gleiche. Eine Notwendigkeit, selbst zu denken und kritisch zu hinterfragen, besteht nicht, ebenso keine Unsicherheit und kein Risiko. Alles ist eindeutig. Wehe dem, der sich hier auf einen fröhlichen Exkurs quer durch das Land begibt. Solche neugierigen und fragenden Wanderer und Störenfriede sind hier unerwünscht. Sie werden als Skeptiker und sogar Gegner eingestuft, sie haben immer noch nicht begriffen, dass es nur eine Meinung, nämlich die Richtige, gibt. Wollen wir wirklich in so einer Landschaft leben? Eine bereichernde Verschiedenheit eliminieren, noch bevor sie Fragen stellen kann? Garantiert es uns eine hundertprozentige Sicherheit, wenn wir die kritischen Fragen im Keim ersticken und uns einem Diskurs nicht stellen?
Miteinander reden ist ein elementarer Akt der Kommunikation, welcher die wichtige Aufgabe der Verständigung hat. Um sich mitteilen zu können und adäquat verstanden zu werden, bedarf es geeigneter Mittel: einer klaren und verständlichen Sprache sowie einer transparenten und überzeugenden Argumentation. Vor allem aber auch der Bereitschaft, sich auf den anderen überhaupt einzulassen, ihm zuzuhören und ihn verstehen zu wollen. Da es zu keiner Zeit zwei genau gleiche Menschen mit exakt denselben Anliegen gibt, sind Differenzen unvermeidbar. Die Beteiligten sehen die Welt – geleitet von ihren persönlichen Interessen – aus ihrem je eigenen Blickwinkel mit ihren je eigenen Augen. Demgegenüber führt eine Nivellierung solcher Differenzen und das Streben nach unbedingter Eindeutigkeit zu einer Pathologisierung des Denk- und Urteilvermögens und des Dialogs. Um es mit einer treffenden Sentenz Friedrich Nietzsches zu sagen: «Alles Unbedingte gehört in die Pathologie.»
Mit dem Ruf nach Eindeutigkeit verlieren wir die Fähigkeit, Unsicherheiten und Ambivalenzen auszuhalten. Das Streben nach absoluter Sicherheit und damit Risikofreiheit hat einen hohen Preis - den Verlust der eigenen Freiheit. Schliesslich verlieren wir die Fähigkeit des Umgangs mit Ängsten und damit mit uns selbst.
Ein anderer Gedanke, der in unsere trügerisch klare Welt eindringt und deren unhinterfragte Selbstverständlichkeiten problematisiert, stellt zuerst eine potenzielle Bedrohung dar. Die lieb gewonnene Wahrheit könnte ins Wanken geraten, in Frage gestellt werden. Da hilft nur eines: den Störenfried gleich ausweisen, sich auf keine gefährliche Diskussion einlassen. Die Wahrheit, in deren Besitz man sich wähnt, braucht man doch nicht in einem ergebnisoffenen Diskurs zu verteidigen. Die einzige Wahrheit kritisch zu hinterfragen, birgt die Gefahr der Entdeckung, dass sie eben doch nicht die einzige ist. Damit aber könnte das mit der Vereindeutigung einhergehende Sicherheitsgefühl seinen, vermeintlich festen, Boden verlieren.
Wenn mehrere Sichtweisen aus unterschiedlichen Blickwinkeln zusammenkommen, stehen Optionen zur Verfügung, die kritisch hinterfragt, verglichen und neu kombiniert werden können. Dabei ist es wichtig, das Verstehen sorgfältig zu sichern. Weder hilft hier ein zu rascher Konsens, ohne die beschlossene Sache nochmals zu hinterfragen und nach gewählten Kriterien zu prüfen, noch ein zu rasch deklarierter Dissens, ohne nach weiteren Möglichkeiten der Verständigung zu suchen. In beiden Fällen wird es schwierig, zueinander und zu gemeinsamen Lösungen zu finden.
Der sich in verschiedenen Zusammenhängen etablierte Ausdruck “alternativlos” lässt eine fehlende Bereitschaft vermuten, einen anderen Gedanken zu untersuchen, oder beschreibt zumindest einen sehr engen Blickwinkel. Darin zeigt sich der Trend zur Vereinfachung von Situationen, welcher nur scheinbar Sicherheit bringt. Die Themen sind komplex. Unbekannte Faktoren können mit anderen ebenso nicht ausreichend bekannten Faktoren auf eine nicht voraussehbare Art korrelieren und kollidieren. Wer hier etwas weglässt, muss sich dessen bewusst sein, dass er vereinfacht und damit rechnen, dass gerade in dem Weggelassenen eine wichtige Komponente nicht berücksichtigt wurde. Wer die Mehrdeutigkeit nicht erträgt und sich dessen sicher ist, klaren Durchblick in komplexen Themen zu haben, überschätzt sich, so wie er die Komplexität unterschätzt.
Eine (vermutlich grundlegende) Frage bietet sich an: Haben wir verlernt zu diskutieren, oder haben wir es nie wirklich beherrscht? Waren bisher die Themen transparenter und nicht so brisant? Das würde bedeuten, dass wir ungenügend qualifiziert sind, einen Diskurs unter erschwerten Bedingungen zu führen. Der raue Ausdruck könnte als Eigenschutz vor einer Überforderung eingesetzt werden: als eine ungünstige, aber kurzfristig wirksame Strategie. Wer laut spricht, verscheucht die anderen. Hier müsste man ansetzen und eine bessere Strategie bieten. Das setzt jedoch den Willen voraus, sich mit der Komplexität auseinanderzusetzen und die Unsicherheit auszuhalten. Wenn wir uns einem kritischen Diskurs stellen und uns in der Offenheit für die Argumentation anderer üben, Differenzen begrüssen und diese kritisch hinterfragen, ohne dass Positionen vorschnell abgelehnt oder ohne Überprüfung angenommen werden.
Doch wie kann eine solche Überprüfung genauer aussehen? Karl Popper, der Begründer des Kritischen Rationalismus, schlägt vor, Hypothesen nicht mit Blick auf vermeintliche Bestätigungsfälle verifizieren zu wollen, sondern zu versuchen, diese zu falsifizieren. Wenn sich eine Hypothese trotz hartnäckiger Falsifizierungsversuche nicht widerlegen lässt, dann bedeutet dies zwar noch immer nicht, dass sie notwendigerweise wahr wäre, wohl aber, dass sie sich in einem hohen Masse bewährt hat. Dieses methodische Vorgehen, das Popper der empirischen Forschung anempfiehlt, eignet sich auch als Instrument für einen kritisch rationalen Dialog in breiteren gesellschaftlich-politischen Kontexten.
Was können wir tun, um zu einem kritischen und differenzierten Diskurs zurückzufinden? Die Reflexion des eigenen Diskussionsverhaltens und die Bereitschaft, sich mit Andersdenkenden leise im Ton und differenziert in der Sache auseinander zu setzen, kann hier eine gute Grundlage bieten.
Die Gesprächs- und Argumentationsführung sind Fertigkeiten, welche eine gute Schulung und Vorbereitung, sowie ein konsequentes Training verlangen.
Die folgenden Fragen können in diesem Zusammenhang hilfreich sein:
Betrachte ich den anderen als Gegner oder als Gesprächspartner?
Möchte ich den anderen besiegen oder von ihm lernen und gemeinsam mit ihm etwas Neues konstruieren?
Interessiert es mich, Recht zu bekommen, oder interessiert mich der wechselseitige Austausch der Sachgründe?
Gelingt es mir, zwischen Informationen und Fakten sowie zwischen Meinungen und Wahrheit zu unterscheiden?
Ist die von mir vertretene Meinung eine von mir selbst gebildete und geprüfte Position? Oder habe ich sie nur einfach übernommen? Vielleicht von jemanden, der besonders laut spricht?
Habe ich mich mit der Materie hinreichend auseinandergesetzt und das vorhandene Wissen unter Rückgriff auf verschiedene Quellen recherchiert und validiert?
Habe ich kritische Fragen gestellt und mich nicht mit den erstbesten Antworten zufriedengegeben?
Bin ich in der Lage, Mehrdeutigkeiten, Unsicherheiten und Unvorhersehbarkeiten zu ertragen?
Sich in Diskurs- und Konsensfähigkeit zu üben bedeutet, die Bereitschaft zu kultivieren, seine eigene Meinung argumentativ zu vertreten und gleichzeitig die Sichtweise des anderen zu beachten. Dabei ist es wichtig, nicht nur Standpunkte und Fakten zu berücksichtigen, sondern auch die Interessen und Bedürfnisse aller Beteiligten.
In einem Diskurs ins Schwarze zu treffen, bedeutet dann: sich dem differenzierten rationalen Diskurs zu stellen – in der Hoffnung, nach einer kritischen Abwägung aller relevanten Argumente und Bedürfnisse einen Konsens zu treffen, der als Lösung im gegenseitigen Einverständnis auch praktisch umgesetzt werden kann.