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Kurlaub – wie funktioniert eine Reha?

von: Dorothea Hoppe-Dörwald

Wie es dazu kam - Schon länger habe ich darüber nachgedacht, mir doch mal eine Kur zu „gönnen“. Ich und Kur? Ich bin doch nicht krank, brauche ich nicht, ohne mich geht es bei der Arbeit nicht, ich kann meine Kolleginnen und Kollegen nicht so lange alleine lassen, nachher schmeckt mir das Essen dort nicht, bestimmt sind die Menschen dort alle irgendwie komisch, ich weiß doch selber, was für mich gut ist, noch nie habe ich solange etwas für mich allein gemacht, will ich das wirklich? All diese Gedanken spukten mir im Kopf herum und haben mich auch lange daran gehindert, aktiv zu werden. Dann sagte mir eine Kollegin, es wäre blöd zu lange zu warten, dann bekommt man so eine Maßnahme nicht mehr genehmigt, weil es sich ja nicht mehr lohnt, wenn man schon so lange durchgehalten hat und kurz vor dem Ende des Arbeitslebens steht. Ob das so stimmt, das weiß ich nicht, aber es hat bei mir dann doch einen gewissen Druck erzeugt. Ich habe mir gesagt: So eine Maßnahme bekommst du bestimmt nicht genehmigt. Letztlich überwog meine Neugier und ich fragte meine Hausärztin, die mir sagte, eine Kur gibt es nicht, das ist heute eine Reha. Naja, der Name macht den Kohl ja nicht fett. Also dann eben eine Reha. Meine Ärztin war toll, sie hat alles in die Wege geleitet, gab mir einen Antrag mit und sagte nur, ausfüllen und bei mir abgeben. Gesagt, getan, sicherlich passiert nun ewig nichts. Weit gefehlt, innerhalb einer Woche war die Genehmigung für eine dreiwöchige Reha-Maßnahme da und nach weiteren Bögen, die noch auszufüllen waren, hatte ich zehn Tage später die genehmigte Maßnahme samt Zeitplan auf dem Tisch. In drei Wochen sollte es losgehen. Erst mal war ich über das Tempo überrascht, dann habe ich mich gefreut und dann musste einiges organisiert werden.

Vorbereitung - Ich habe ja nicht mal einen Koffer, der für so eine lange Zeit ausreicht. Später sah ich, dass die Neuen mit weitaus mehr als einem Koffer anreisten. Es schien, als würden sie umziehen. Vorausschauend wurde eine Liste mitgeschickt, was unbedingt ins Gepäck muss: Wanderschuhe, Turnschuhe, Hausschuhe, Sportkleidung, Schwimmzeug und dann noch die normale Kleidung, logisch. Aber immerhin, laut Infoblatt stehen vor Ort Waschmaschinen und Trockner zur Verfügung. Bei der Anreise mit der Bahn übernimmt der Träger auch das Zugticket, aber das muss mindestens zwei Wochen vorher beantragt werden.

Wo komme ich überhaupt hin? Thüringer Wald, die Gegend kenne ich gar nicht, dann ist das doch für mich etwas ganz Neues, das ist schön und es ist richtig weit weg. So merke ich, dass ich woanders bin. Das passt doch. Und ich wandere ja auch gerne. Warum nicht? Hier merken meine klugen Kolleginnen gleich an, wenn dir der Ort nicht passt, dann kannst du auch Widerspruch einlegen. Auf die Idee wäre ich nie gekommen, ich nehme es, wie es kommt. Nach fünf Tagen liegt das Ticket auf dem Tisch, jetzt wird es greifbar. Zwei Tage vor der Abfahrt fühlt es sich doch etwas komisch an. Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr und schon sitze ich im Zug nach Thüringen.

Ankunft - Es ist für alles gesorgt. Ein Taxi soll mich am Zielbahnhof abholen, denn die Klinik liegt weit ab vom Schuss, da gibt es keinen Bahnhof, keine S-Bahn, nur noch ein Linienbus, der dann aber ewig unterwegs ist. Ich stehe allein an einem tristen Bahnhof, landschaftlich quasi schon mitten im Wald. Auf der Treppe sitzen ein paar Typen mit französischen Bulldoggen, ein breiter Kerl samt Dobermann gesellt sich zu den Kumpeln und ich bin dann doch froh, als das Taxi mit einer viertel Stunde Verspätung eintrifft, denn an einem Donnerstagmittag an einem leeren Bahnhof mitten in Thüringen steht es sich irgendwie nicht so gut. Der Taxifahrer entschuldigt sich, er habe es nicht eher geschafft. Er verfrachtet meinen Koffer, ich sitze vorne, hinten ist noch ein weiterer Fahrgast, ein Mann in einem Rollstuhl. Insgesamt dauert die Fahrt noch eine Stunde, wir fahren noch ein Stück Autobahn, dann geht es tiefer in den Wald hinein und nur noch bergauf. Der Wald ist allgegenwärtig, genauso wie die Holz-LKW, die uns schwerbeladen entgegen kommen. „Da bringen sie unser gutes Holz weg,“ merkt unser Fahrer an, „alles Chinaholz.“ Er erzählt auch sonst, dass das Leben hier hart ist und der Winter lang und wenn man kein Wintersportgast ist, ist man auch kein Schneefan. Bei einem Fahrer mit festen Terminen leuchtet mir das ein. Er hat Klinikfahrten, Dialysefahrten, Apothekenfahrten, und Chemotherapiefahrten auf dem Plan. Ohne diese privaten „Fuhrunternehmen“ würde hier oben nicht viel funktionieren.

Wir erreichen das kleine Dorf und ich fühle mich an meine Jahre im Odenwald erinnert. 500 Menschen leben hier vielleicht und fast alle hängen sie vermutlich am Tropf der Reha-Klinik. Die Häuser sind alle mit Schiefer verkleidet, das sieht schön aus und ich fühle mich wie im Urlaub. Das Gefühl endet allerdings schlagartig, als ich die Klinik betrete. Krücken, Rollstühle und Blindenstöcke sind hier die wichtigsten Utensilien, es riecht auch irgendwie nach Klinik und ich fühle mich auch an das Altenheim erinnert, in dem mein Schwiegervater die letzten Jahre verbrachte. Diese Mischung aus Essensgeruch, Lobby, Hotel und Krankenhaus ist einfach unschlagbar. Dabei ist bestes Wetter, es wird gut gelüftet, aber es hilft nichts, Urlaub ist das dann eben doch nicht. Auf den Bänken vor dem Haus verbringen die Patienten die Wartezeit bis zur nächsten Anwendung oder zum Essen oder bis zum Gang in den Raucherpavillon zur nächsten Zigarette. Dieser Pavillon ist schon hart. Wenn er voll ist, sieht er wie eine Nebelhöhle aus. Ist er leer sieht man den schönen Plastikblumenstrauß auf dem kleinen Tischchen und die gebastelten Dekoherzen aus Weidenzweigen. Sehr gemütlich.

Aufnahme – Es herrscht immer noch Corona, daher wird die Klinik nur mit Mund-Nasen-Schutz betreten. Für die Neuankömmlinge ist ein eigener Wartebereich abgeteilt, hier wird zunächst ein Coronaschnelltest gemacht, vorher kommt man nicht rein, auch nicht, wenn man geimpft ist. Nach drei Tagen wird der Test wiederholt, danach wird nicht mehr getestet. Mein Mitfahrer und ich warten. Er hat Diabetes und einen amputierten Unterschenkel und muss nun auf Prothese und Krücke und Rollstuhl umsteigen. Er hört nicht mehr auf zu erzählen. Aha, mhm, interessant, das ist ja hart, so kommentiere ich höflich seine Erzählung. „So stellt man sich den Einstieg in die Rente ja nicht vor,“ sagt er noch, dann werde ich zum Test aufgerufen. Wir werden uns während der nächsten drei Wochen immer wieder über den Weg rollen und laufen. Aber es ist gut, dass wir nicht an einem Tisch sitzen müssen, denn im Laufe dieser drei Wochen macht er eine interessante Wandlung vom Erzähler zum Meckerer durch, was für eine wohltuende Tischgemeinschaft nicht sonderlich zuträglich ist.

Ich werde in mein Zimmer begleitet, Nr. 305. Dort wird mir erklärt, dass ich bis zur Aufnahme bei der Schwester hier bitte warten soll, ich werde angerufen. Das Zimmer erscheint mir wie ein Jugendzimmer aus den 70er Jahren und ist es vermutlich auch. Bett, Schreibtisch und Schrank sind eine Einheit. Dann gibt es noch ein kleines Sofa. Überall ist Teppich, die Gardinen sind gemustert.

Ich packe den Koffer aus. Das schaffe ich gerade, denn der angekündigte Anruf lässt nicht lange auf sich warten. Ich gehe ins Schwesternzimmer, werde regulär aufgenommen, gemessen und gewogen und werde zur Aufnahmeuntersuchung zu meinem zuständigen Arzt geschickt. Ich bin aufgrund meines Befunds der orthopädischen Abteilung zugeteilt. Hier werde ich noch mal gründlich auf Biegsamkeit und Reflexe durchgecheckt und dann geht der Arzt mit mir die möglichen Maßnahmen durch, die für mich in Frage kommen. Der Medikamentenplan wird durchgesprochen, jetzt fühlt es sich definitiv nach Krankenhaus an.

Führung für die Neuen - Im Anschluss daran bekommen alle am heutigen Tag neu eingetroffenen Mitbewohner eine kurze Hausführung zur ersten Orientierung. Anfangs werde ich mich noch ein paar mal verlaufen, das Gelände ist groß. Die Rezeptionistin führt die Führung eher lieblos und gehetzt durch, sie bleibt kurz und die Schilderungen sind knapp. Sie mag diese Aufgabe nicht sonderlich gern, das spüre ich sofort. Sie schafft es, uns in zehn Minuten einmal grob durch die Anlage zu schleusen. Im Anschluss erfolgt noch die Zuteilung in die Essensgruppe. Aufgrund der Pandemie finden die Mahlzeiten in zwei Schichten statt, damit im Speisesaal (sie nennen es Restaurant) mit dem gebührenden Abstand gesessen und gegessen werden kann. Ich komme in die blaue Gruppe und erhalte dementsprechend auch ein blaues Bändchen, das ich mir noch bei der Schwester abholen muss. Ich habe noch zwei Stunden Zeit bis zum Abendbrot.

Die Gesichter der Teilnehmer der Hausführung habe ich mir gemerkt, schließlich sind dies zunächst meine ersten Verbündeten, da sie wie ich neu sind und diesen Zustand irgendwie hinter sich bringen müssen. Die Raucher haben es da leicht, im Pavillon findet sich fast immer jemand, ob man die Person sympathisch findet, ist natürlich eine andere Frage. Ich bin allerdings auch nicht sonderlich interessiert an Kommunikation, ich genieße es gerade sehr, niemanden zu kennen, von niemandem gekannt zu werden und einfach in Ruhe gelassen zu werden. Dabei muss ich aufpassen, dass ich mich an die Gesetze der Mikrokommunikation halte und auf alle Fälle das Grüßen nicht vergesse. Denn hier wird ständig gegrüßt. Besonders anstrengend ist es morgens und mittags. „Mahlzeit, Mahlzeit, Mahlzeit!“ Ich komme mir vor wie in diesem uralten Sketch von Gerhard Polt auf dem Weg in die Kantine. Nicht grüßen geht hier nicht. Da hier auch Augenpatienten zur Reha kommen, ist das Reden noch mal wichtiger, damit die sehbehinderten Mitbewohner auch hören können, wenn jemand kommt, geht oder steht.

Der Briefkasten – Dem eigenen Briefkasten kommt eine ganz besondere Bedeutung zu. Hier findet man den täglichen Anwendungsplan und es fühlt sich einfach gut an, einen wichtigen Gang zu haben und nach Post oder wichtigen Informationen zu schauen. Alle drei Tage liegen auch neue Masken für uns im Kasten. Und bereits am ersten Abend liegt der Tagesplan für den kommenden Tag für mich in meinem Briefkasten bereit. Besonders beglückend ist es, wenn neben dem Tagesplan auch Echtpost im Kasten liegt. Das ist wie ein Schatz, den ich dann auf mein Zimmer trage. Und die Kür ist es, wenn ein Kärtchen im Kasten liegt: Sie haben Post, bitte holen Sie diese an der Rezeption ab. Das heißt, hier ist etwas Größeres angekommen. Diese Echtposttage sind besondere Tage, weil jede Karte eine Überraschung ist und ein Lebenszeichen von „draußen“!

Alles zum ersten Mal – Jetzt beginnt die Phase der ersten Male. Das erste Essen im „Restaurant“. Ich werde an Tisch 18 geführt, dies bleibt mein fester Platz für die ganzen drei Wochen. Es sitzt bereits ein kräftiger und sehr gesund aussehender Mann mittleren Alters am Tisch. Wir grüßen uns und mein Kollege ist sehr hilfreich. Er gibt mir eine erste Einführung in die Abläufe. „Abends gibt es immer Tee, morgens steht Kaffee auf dem Tisch. An das Buffet darf man nur mit Einmalhandschuhen. Das Essen ist eigentlich okay, die Gegend toll, man kann gut wandern gehen. Die Anwendungen sind mal sehr eng getaktet, mal wartet man ewig oder hat so gar nichts zu tun. Und jetzt noch einen schönen Abend.“ Und damit steht er auf und geht. Ich lasse meinen Blick durch den Speisesaal wandern, lausche auf das Gemurmel. Ich habe einen guten Platz, wenn man das Geschehen beobachten will. Ich sitze am Rand mit gutem Überblick über den gesamten Saal und genieße es, allein zu sein und ungestört.

Die blaue Gruppe ist die frühe Gruppe. Man frühstückt um sieben Uhr, mittags wird um 11:30 Uhr gespeist und zu Abend findet man sich um 17: 00 Uhr ein. Diese Zeiten gelten auch am Wochenende. Um halb sechs bin ich mit dem Abendbrot fertig und stehe auf und da es ja noch sehr früh am Abend ist und ein wundervolles Wetter lockt, erkunde ich meine neue Umgebung. Landschaftlich ist es ein Volltreffer, draußen fühlt sich alles gleich wieder komplett nach Urlaub an. Berge, Wald, herrliche Ausblicke bei einer Luft die man schmecken kann.

Die erste Nacht ist dann eher mühsam, das Bett gewöhnungsbedürftig, ich bin früh wach und der erste Tag beginnt. Behandlungstag 1 besteht aus vielen Einführungsveranstaltungen und vielem Suchen. Mal ist es die Gymnastikhalle, dann die Badeabteilung oder die Physiotherapie, die ich nicht auf Anhieb finde. Aber hier helfen alle gerne und man kann wirklich jeden fragen, der einem über den Weg läuft. Nur die Schwestern sollte man lieber schonen, die sind oft im Stress.

Schlange stehen - Vor dem Speisesaal bildet sich eine lange Schlange. Die Küche öffnet die Türen meistens erst kurz nach sieben und erst dann dürfen wir Platz nehmen. Es geht alles ordentlich der Reihe nach, es gibt auch immer wieder Anwesenheitskontrollen. Einmal pro Tag sitzt eine Rezeptionistin mit ihrer Liste an der Tür des Speisesaals und wir müssen unsere Zimmernummer angeben. Mir gehen komische Gedanken durch den Kopf, wenn ich so in der Schlange stehe und dann eine Nummer und keinen Namen angebe. Dient das dem Datenschutz? Daran denke ich allerdings erst viel später, denn das wäre der einzige Ort hier im Haus, an dem darauf Wert gelegt wird, denn sonst werden die Namen auch laut aufgerufen. Zunächst aber stehe ich in der Schlange und bin Nummer 305.

Kleiderordnung – Tag 2. Heute treffe ich das rosa Kaninchen. Wir sind zur Blutabnahme geladen und sitzen auf den Stühlen im Flur und warten. Das sind die Momente, in denen man sich definitiv wie in einem Krankenhaus fühlt. Da kommen die lieben Mitkurenden und präsentieren ihre neusten Kollektionen. Heute nimmt eine Dame ganz in rosa neben mir Platz. Sogar die Turnschuhe sind rosa, dabei hatte sie gestern eine Kombination ganz in schwarz an. „Oh“, entfährt es mir, „wow, da passt ja alles zusammen.“ – „Ja schick, nicht wahr?“ antwortet sie begeistert. Ich schaue mich weiter um. Anhand der Garderoben kann man schon Phantasie entwickeln und sich überlegen, was für ein Leben und welche Herkunft die Menschen wohl haben. Es gibt ein paar ältere sehr feine Damen, die würde man nie in Jogginganzug rumlaufen sehen. Die turnen dann auch mit Ohrringen und Goldschmuck, die Haare sind immer frisch toupiert. Andere sind schlicht elegant, aber auch weit weg von Sportbekleidung und strahlen eine ganz andere Souveränität aus. Alles in allem erscheinen mir die Damen doch aufmerksamer in ihrer Kleiderwahl als die Herren. Hier geht es von den berühmten Plastikbadelatschen und Jogginganzügen im sehr schlabberigen Stil über teure Markensportbekleidung, die schon längst als alltagstauglich gilt, bis hin zu der Bemühung im Speisesaal wirklich ohne Sportkleidung aufzutauchen, wie es von den Gästen gewünscht wird. Das ist allerdings zeitlich manchmal einfach eine Herausforderung, wenn man um 7:00 Uhr Frühstück hat und um 7:30 Uhr in Badebekleidung zum Bewegungsbad muss. Denn da liegen dann noch (in meinem Fall) 66 Stufen dazwischen, wenn man im dritten Stock wohnt. Und runter sind es 82 Stufen, da sich die Bäderabteilung im Keller befindet.

Gruppendynamik – Das Wechselbad der Gefühle ist erstaunlich. Es ist ein Schwanken zwischen dem Bedürfnis, so schnell wie möglich irgendwie dazu zu gehören und lieber für immer auf Distanz zu bleiben.

Die Raucher kriegen das irgendwie schneller hin mit der Zugehörigkeit. Der Raucherpavillon sorgt für eingeschworene Gruppen und das gemeinsame Bedürfnis verbindet sofort. Hier werden Neue aufs Beste gebrieft. Leider rauche ich nicht mehr, aber wenn ich es genauer betrachte, dann habe ich keine Lust in diesem engen Nebelhäuschen zu stehen. Die Menschen da draußen sehen alle irgendwie traurig und frustriert aus.

Oder man setzt sich in das hauseigene Kaffee oder in die Lobby und kommt mit jemandem ins Gespräch. Aber oft sind da schon kleine Gruppen, Vertrautheit und freundschaftliches Miteinander, als würde man hier schon ewig zusammen wohnen. Ich kenne niemanden, grüße aber ständig freundlich nach links und nach rechts. Mal spüre ich die große Freude, dass ich niemanden kenne und nicht befürchten muss, dass jemand etwas von mir will. Das ist ein unglaublich gutes Gefühl. Wenn es zu lange anhält, fühlt es sich allerdings nicht immer so erhaben an.

Mikrokommunikation – Hier öffnet sich ein großes Übungsfeld für Mikrokommunikation. Der Versuch beim rosa Kaninchen war nicht so toll. Und womit mikrokommuniziert es sich in so einem System am leichtesten? Mit Gemecker! Und genau in das Horn wollte ich nicht tuten. Gemeckert wird schnell, aber was es bedeutet, den ganzen Betrieb aufrecht zu halten und zu ständig wechselnden Kurgästen mit vielen sehr individuellen Wünschen, Umgangsweisen und Verhalten immer freundlich und zuvorkommend zu sein, das wird dabei auch schon mal vergessen. Wo bleibt der Arzt denn, hier sitzt man aber auch immer im kalten Flur, das Buffet ist auch immer dasselbe und so weiter und so weiter. Aber Vorsicht – schnell rutscht einem etwas Unbedachtes raus, das kurzfristig das Gefühl einer verschworenen Gemeinschaft erzeugt und auch schon in die Kategorie Meckern geht. Ich versuche also beständig nur zu loben, das Positive zu sehen und für Verständnis zu werben. Denn ich selbst bin auch Dienstleisterin und muss im Job professionell freundlich sein und weiß, wie schwer das ist, weil die Ansprüche der Kunden immer höher werden. Ich versuche es mit dem Motto: Nimm dich nicht so wichtig. Und ganz ehrlich, was haben wir denn zu tun, außer uns den ganzen Tag tollen Service abzuholen. Sei es von den Therapeuten, den Servicekräften im Speisesaal, bei den Schwerstern und Ärzten und Putzkräften. Wir werden den ganzen Tag bedient, dass ist das System und da muss man eben auch mal etwas warten können. Ich finde es sowieso erstaunlich, dass es dieses System der bezahlten Auszeit gibt. Drei Wochen einfach raus aus dem Job ist doch eine tolle Sache. Wenn alles gut läuft, dann traue ich mir im weitesten Sinne zu sagen, dass das drei zusätzliche Urlaubswochen sind. Luxus pur! Aber mir geht es ja auch gut, ich hatte keinen Unfall, keine Augenkrankheit und keinen Krebs. Ich mache einfach eine Pause.

Anwendungen - Vor den Anwendungen stehen die kleinen Gruppen Wartender. Corona sorgt für sehr überschaubare Gruppengrößen. Mittlerweile tauchen „bekannte Gesichter“ auf. Ich nutze das therapeutische und bewegungsfreudige Angebot und nehme alles was ich kriegen kann. Und das ist wirklich nicht wenig. Rückenschule, Wirbelsäulengymnastik, Ergotherapie, Ergometer- und Krafttraining, Terrainlauf C und Fango, Bewegungsbad, Aquajogging, Fußreflexzonenmassage, Qi Gong, Autogenes Training und Feldenkrais. Außerdem gibt es jede Woche zwei bis drei Vorträge, es gibt Anti-Stress-Training und psychologische Einzelgesprächsangebote. Die Tagespläne halten auch immer mal Überraschungen bereit, genau wie mein Tischgenosse es beschrieb. An manchen Tagen hastet man fast gestresst von einer Anwendung zur nächsten, an anderen Tagen schieben sich lange Pausen zwischen die Termine, die aber zu kurz sind, um in die Wanderschuhe zu steigen und in den Wald zu gehen. Also sitzt man zwischen den Programmpunkten - aber eigentlich ist das gar nicht so schlimm. Denn es hetzt mich ja nichts, ich habe ja sonst nichts vor. Und ich habe Zeit meine Mitbewohner zu betrachten oder noch mal zum Briefkasten zu gehen oder erneut den Speiseplan zu studieren.

Neuzugänge und alte Hasen – Nach wenigen Tagen hat sich alles eingependelt und schnell erkenne ich die Neuzugänge. Entweder begegnet man ihnen in der Empfangshalle beim Verladen der Gepäckmassen oder beim Warten auf den Coronatest. Oder sie stehen das erste Mal mit vor dem Raum zu der Anwendung und fragen, ob das die richtige Gruppe ist. Und so werde ich ganz schnell vom Neuzugang zum alten Hasen, kann den Weg erklären oder sonst irgendwie behilflich sein. Das fühlt sich ganz gut an. Ein bisschen wie dazu zu gehören, aber dann wird man eben auch wieder nicht zu sehr in Beschlag genommen, alles bleibt eher unverbindlich.

Somit bin ich nun mitten drin, Woche eins ist vorbei, die Tage haben eine Routine und Sicherheit bekommen. Ich habe mir eine neue eigene Struktur geschaffen. Wandern in jeder freien Minute, eine feste Abendrunde mit Kneippbecken nach dem Abendbrot und ich habe einen Platz gefunden, an den ich mich gerne zum Lesen zurückziehe. Dreimal die Woche nutze ich abends das freie Training, auch ein fester Programmpunkt in diesem Alltag. Es fühlt sich einfach gut an, einen Termin zu haben. Ich habe auch beim Essen einen Rhythmus entwickelt, quasi einen Plan nach dem ich lebe und der Entscheidungen leicht macht. Kleine Rituale strukturieren jetzt diesen Alltag. Es hat sich auch ein festes soziales Gefüge entwickelt. Der nette ältere Herr, der als ambulanter Gast nur mittags mit an Tisch 18 sitzt. Er hat einen feinen Humor und wir haben eine stille Freude an unserer Unterhaltung. Das Mittag wird so zu einem kleinen Höhepunkt, weil man sich auf eine angenehme Kommunikation freut. Wir essen beide langsam, während ein weiterer Tischkollege jede Mahlzeit quasi inhaliert und dann sehr rasch den Speisesaal verlässt. Wir warten auf den anderen, wenn einer von uns eher fertig ist, beenden die Mahlzeit gemeinsam und verabschieden uns und freuen uns auf das Wiedersehen am kommenden Tag.

Das Ehepaar aus Hamburg war ein Tag vor mir da und fiel mir auf, weil der Mann bei der Einführungsveranstaltung zur Rückenschule erzählte, dass er nur ca. eine Stunde am Tag sitzen würde. Wie er das macht, das hat mich dann doch interessiert und als wir vor dem Kraftraum gemeinsam auf unseren Therapeuten warteten, kamen wir dazu ins Gespräch. Mit ihm und seiner Frau entwickelten sich dann Flurgespräche. Und dann ist da noch Susi, meine Zimmernachbarin. Da wir viele Anwendungen zusammen hatten und wir oft den gleichen Weg hatten, kam man dann doch über das Stadium der Mikrokommunikation hinaus und wir erzählten uns das eine oder andere und kommentierten das, was wir so erlebten. Das Essen, die Anderen, die Therapeuten und die Physiotherapie.

Halbzeit - Und schon sind die ersten zehn Tage vergangen. Ich nutze das Wochenende und wasche meine Wäsche und schwanke zwischen Wohlfühlen und Langeweile, Verzagtheit und Euphorie. Ich mache Wanderpläne und hoffe auf gutes Wetter, damit ich meine Vorhaben auch noch einlösen kann.

Ich habe mir eine Karte gekauft und erlebe das Wandern ganz alleine mit einer ungekannten Intensität. Ich glaube, ich war niemals soviel allein unterwegs. Ich lausche ganz anders in den Wald, ich bleibe stehen, weil mir meine eigenen Schritte laut vorkommen, weil ich die Luft schmecken möchte oder nur einfach tief einatmen muss oder Blicke genießen will. Auf meinen Wegen ist alles definitiv wie Urlaub. Ich fühle mich in diesen Momenten absolut frei, glücklich und bei mir. Ich habe das Gefühl, das könnte auf alle Fälle noch ewig so weitergehen. Auch, weil sich mein Radius erweitert, die engere Umgebung wird getauscht mit der weiteren Umgebung. Am Wochenende mache ich Tagestouren und treffe oft stundenlang keine Menschenseele. Ich probiere Wege aus, die nicht zum Ziel führen, gehe manchmal mit der Anspannung, ob ich es noch pünktlich zurück schaffe, lege mir Systeme zurecht, damit ich weiß, wann ich umkehren muss, um pünktlich zum Essen zurück zu sein. Ich frage, wohin die ersten zehn Tage entschwunden sind. Nur intellektuell fühlt sich alles ein bisschen unterversorgt an, auch wenn ich guten Lesestoff dabei habe.

Waldbaden und Kino – Es gibt aber auch kulturelle Highlights in den Höhen des Thüringer Waldes. Waldbaden zählt bestimmt dazu. Am zweiten Wochenende fand in unserer Klinik ein Waldbaden-Kongress statt. Unter Waldbaden versteht man die Gesundheitsvorsorge in der Natur, ein Erlebnis für Körper und Geist. Die Idee kommt aus Japan und dort heißt das Shinrin Yoku und lässt sich übersetzen mit ein Bad in der Atmosphäre des Waldes nehmen. Daraus entstanden mittlerweile eine eigene Philosophie und eine neue naturheilkundliche Disziplin. Dass Wandern gut tut, wusste man zwar schon immer irgendwie, aber nun ist es amtlich. Wald tut gut und hat heilende Kräfte, das ist endlich auch wissenschaftlich erwiesen, messbar und lässt sich dann auch wunderbar verwursten, wie die berühmten Thüringer Bratwürste. Es gibt Kurse, um Waldbaden zu erlernen und endlich weiß ich es auch, ich habe während meiner Kur intensives Waldbaden betrieben, nur wusste ich es bis dahin noch nicht. Beim Waldbadenkongress gibt es dann wirklich Abwechslung für uns, denn einen Tag lang stehen im Foyer Verkaufsstände mit vielen Dingen, die für naturnahe Menschen unentbehrlich zu sein scheinen. Selbstgezogene Seife, Biolebensmittel, Holzgeschnitztes und ganz viele Spezialitäten aus der Region. Aber auch Yogamatten und Klangschalen und Wollkleidung fehlt nicht. Die entspannten Waldbader in rustikalem Outdooroutfit machen Bogenschießen, Qi Gong vor dem Haus (im Regen), gehen Wandern und bekommen Essen aus der Gulaschkanone. Es gibt auch Vorträge.

Es gibt aber noch ein Highlight, denn die Klinik hat ein eigenes Kino. Und es ist ein schönes großes Kino, das an den Wochenenden geöffnet hat. Das Programm am ersten Wochenende war mir unbekannt, am zweiten Wochenende traf es nicht meinen Geschmack, aber weil man mal irgendwas unternehmen möchte, beschlossen Susi, die Frau aus Hamburg und ich, am dritten Wochenende ins Kino zu gehen. „Der Junge muss an die frische Luft“ - der Titel passt ja auch schon wieder zum Waldbaden und außerdem ist das Kino der einzige Ort, an dem es Alkohol gibt. Das ist für viele sicherlich ein guter Grund, sich einen Filmabend zu gönnen, denn im Haus gilt Alkoholverbot.

Schatten – Keine Kur ohne Schatten. Auch wenn ich bei all meinem stillen Voyeurismus das Kurschattenphänomen nicht wirklich ausmachen konnte, so war es doch interessant zu beobachten, was geschah, als eine blonde junge Frau von 25 Jahren bei uns im Wald eintraf. Schlank, schön und unternehmungslustig tauchte sie eines Tages auf. Und interessant war der Ruck, der durch viele männliche Akteure ging. Sie umschwirrten die junge Frau begeistert und wurden auch mit viel Beachtung bedacht. Sie setzte sich auch gut in Szene, reckte und streckte und bog sich auf der Matte beim Krafttraining und konnte beim Aquajogging mit einem Tanga punkten, während wir anderen Damen alle sehr züchtig in Badeanzügen erschienen. Sie trug Pullover, bei denen eine Schulter immer so ganz lässig wie zufällig verrutscht und somit frei war. Wo sie war, war auch immer eine Ansammlung (älterer) Herren, es perlte ihr Lachen, man organisierte Ausflüge.

Aber eine Kur kann das Leben in diese Richtung möglicherweise komplett verändern. Beim Terraintraining C (45 Minuten sehr schnelles Wandern mit Trainer) erzählte mir eine Frau, sie habe während ihres Kuraufenthalts ihren Mann kennengelernt. Also manchmal funktioniert das.

Abschlussgespräch – Am vorletzten Tag hatte ich dann das dritte Gespräch mit meinem mich behandelnden Arzt. Ich hatte mich pünktlich vor seinem Besprechungszimmer eingefunden und es fühlte sich mal wieder komplett nach Krankenhaus an. Warten auf den Mann mit dem weißen Kittel. Mit zwanzig Minuten Verspätung kam der Arzt herbei gehetzt und seufzte eine Entschuldigung, es sei alles so schwierig, es täte ihm leid, dass ich hatte warten müssen, aber so sei das nun mal, wenn man mit vier Personen die Arbeit von sechs machen müsse. Ich horchte auf und er sprudelte nur so los, wie marode der Zustand sei, wie schwierig die Lage und wie schräg die Welt. Und ich fühlte mich einen Moment lang so, als sei ich der Arzt und er der Patient. Zugleich hatte ich auch das Gefühl, als würde er von meiner Arbeit berichten. Denn chronische Personalknappheit und Zeitnot kenne ich auch nur zu gut. Und ich überlegte, wie er den Spagat für sich hinbekommt, seinen Patienten Anleitungen zu einem gesünderen Leben zu geben und selbst dabei in genau dem gleichen Mühlrad zu stehen und zu rennen und die eigenen Ratschläge nicht leben zu können.

Es war trotzdem ein gutes Gespräch, immerhin nahm er sich eine halbe Stunde Zeit, sich sein Herz auszuschütten, was nicht uninteressant war. Dabei untersuchte er mich auch noch mal. Wie bei der Eingangskontrolle wurden die Reflexe und die Biegsamkeit noch einmal getestet. Die Frage, ob die Schmerzen besser geworden seien, musste ich leider verneinen. Das war auch ein Punkt, der mich doch sehr ernüchterte. Ich hatte doch tatsächlich gedacht, ich gehe ohne die ganzen Verspannungen da wieder raus. So war es leider nicht. Aber da ich ja nun gelernt habe, dass ich alle vier Jahre Anspruch auf eine Reha zum Erhalt der Berufsfähigkeit habe, habe ich Hoffnung, dass die nächste Kur kommt. Der Arzt diktierte in seinen Abschlussbericht, dass das auf alle Fälle indiziert sei. Das ist doch eine gute Perspektive.

Rückreise - Nun sind die drei Wochen um. Ich stehe mit meinem einen Koffer am Eingang der Klinik und warte auf das Taxi. Das Wetter ist trist und kalt. Es ist nun endgültig Herbst geworden. Die wundervolle Spätsommerlage ist einem nebeligen tristen Novemberwetter gewichen. Das letzte Frühstück ist gegessen, alle Postkarten sind verschickt, ein Paket mit Schmutzwäsche ist mit der Post schon vorausgeschickt, so ist der Koffer nicht mehr ganz so prall. Von meinem ambulanten Tischkollegen hatte ich mich schon am Vortag verabschiedet. Die Hamburger waren schon einen Tag vor mir abgereist und Susi muss verlängern und hat noch eine weitere Woche vor sich.

Ein weiterer Herr wartet ebenfalls auf das Taxi und wir kommen ins Gespräch. Es wird eine angenehme Fahrt ins Tal hinab, denn wir gleichen unsere Erfahrungen und Erlebnisse der letzten Wochen ab und bedauern es ein wenig, dass wir uns erst am Abreisetag kennenlernen, denn das Gespräch ist anregend und kein bisschen oberflächlich. Am Bahnhof angekommen trennen sich unsere Wege.

Ich sitze im Zug zurück nach Hause und habe das Gefühl, dass ich da gar nicht wieder hin möchte. Ich möchte viel lieber noch ein wenig waldbaden.