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SIRI GOES COUNTRYSIDE: AUFZEICHNUNGEN VOM BERGHOF

Depeschen aus der Kapitale - Folge 2 / 2021

von: SIRI 16

Nachdem ich Corona-bedingt 15 Monate in meiner kleinen Küche gesessen und angefangen hatte, einen alten Mann aus dem gegenüberliegenden Haus dabei zu beobachten, wie er morgens um acht auf dem Balkon stehend sein erstes Bier trank, war es an der Zeit, Berlin für eine Weile zu verlassen. Da ich mir einen Urlaub nicht leisten konnte, dachte ich an eine Kur, am liebsten in Bayern in den Bergen, mit kristallklaren Seen und Gondelfahrten. Ich sah mich schon in einer rot-weiß-karierten Bluse und Vintage-Rucksack auf dem Gipfel, natürlich winkend, dem Himmel ganz nah.

Als mir der Hausarzt den Berghof zur Erholung empfahl, umgeben von Zweitausendern, Schwimmbad, großem Garten, Zimmer mit Balkon, war ich mehr als glücklich. Hier und da ein paar Therapien, Anwendungen, Moorbäder, ansonsten viel Freizeit, stellte ich mir vor. Ich musste es ja nicht so genau nehmen, könnte schwänzen, ein plötzliches Unwohlsein vorschieben. Und dann würde ich heimlich in den Wald stechen, mit meiner rot-weiß-karierten Bluse und dem Vintage-Rucksack. Mir schwebte eine Szene aus Kästners doppelten Lottchen vor, und zwar aus der Verfilmung von 1950 mit den süßen Zwillingen Isa und Jutta Günther. Darin wird so schön gewandert und gesungen, man muss einfach davon ausgehen, die bayrische Welt wäre eine einzige Idylle.

Als mich das Taxi an der Pforte des Berghofes absetzte, übertraf das Anwesen meine Erwartungen. Aus dem lauten, schwierigen Corona-Berlin kommend erschien mir der Berghof wie die Insel der Seligen, himmlisch still, die Luft klar und frisch.

Erste Kratzer bekam die Idylle, nachdem ich mit meinem, wie es hieß Mutterschiff, zusammen in der Aufnahme vom Berghof auf die Registrierung gewartet hatte. Auf meine Frage, was sich hinter einem Mutterschiff verberge, antwortete die Krankenschwester, es handele sich um den Namen für alle am Dienstag ankommenden Neupatienten. Obwohl mich diese Erklärung irritierte, weil mir die Antwort nicht wirklich weiterhalf, sagte ich nichts. Zuerst hatte ich angenommen, die Mütter der jungen Patienten wären das Mutterschiff. Die Mütter stellten sich mir ungefragt vor und sagten mit starker süddeutscher Färbung, ich bin die Mama von Vanessa, ich bin die Mama von Asti, ich bin die Mama von Jolanthe. Dann gingen sie zu ihren Autos auf dem Parkplatz und schleppten zahlreiche Koffer, Taschen und Beutel in den großzügig geschnittenen Aufnahmeraum. Die Töchter saßen mehr oder weniger teilnahmslos auf schön geschwungenen Holzstühlen. Vielleicht litten sie schon jetzt unter Entzugserscheinungen. Im Berghof herrscht absolutes Handy- und Computerverbot.

Ich bewunderte, mit welcher Geschicklichkeit die Mamas die zahlreichen Koffer, Taschen und Beutel geradezu fugen-bündig nebeneinander aufreihten. Ohne miteinander zu sprechen, arbeiteten sie Hand in Hand, als wären sie alte Kolleginnen bei der Gepäckkontrolle auf dem Flughafen. Vermutlich ihrer Liebe nach Ordnung und Struktur folgend, stellten sie meinen einzigen Koffer, der neben der Eingangstür stand, zum Gepäck der Töchter.

Seltsamerweise begrüßten die Mamas die Krankenschwestern nicht. Einen Moment lang befürchtete ich, man ginge davon aus, ich wäre jetzt die temporäre Mutter der jungen Frauen. Doch das konnte nicht sein, denn sicherlich kamen nicht jeden Dienstag drei junge und eine ältere Frau gemeinsam an. Auch später, als ich schon eine Weile im Berghof war, habe ich nie herausgefunden, was sich genau hinter dem Mutterschiff verbirgt. Doch da gab es schon so viele schräg klingende Bezeichnungen, dass mir Mutterschiff von heute aus gesehen harmlos vorkommt.

Einige Tage lang versuchte ich, alles schön zu finden. Ich bemühte mich, mit dem Duzen zurecht zu kommen, denn im Berghof duzen sich alle, von der Putzfrau bis zum Chefarzt. Hatte der für mich zuständigen Ärztin Heike nicht gesagt, dass ich nicht einmal meinen Nachbarn duze, obwohl wir uns schon seit Jahren kennen und Hühnersuppen vor die Tür stellen, wenn wir krank sind.

Das werde ich ja wohl schaffen, hatte ich gedacht, dann duze ich eben mal jeden, egal wen. Doch da ich es nicht gewohnt war, führte es natürlich zu Missverständnissen. Anfangs ging ich davon aus, der Chefarzt hieße mit Nachnamen Volker, aber er hieß Tim-Volker mit Vornamen, eine Kombination, die ich noch nie gehört hatte und mir grotesk erschien.

Als Tim-Volker die Neupatienten begrüßen wollte – in diesem Kontext sprach man unerklärlicherweise nicht vom Mutterschiff – sollte auch der Gründer der Klinik, der Johannes, mit dabei sein. Niemand sagte der Tim-Volker, aber alle sagten, der Johannes. Da diese Veranstaltung im Schwimmbad stattfand, hatte ich gezögert, dort hinzugehen. Mir schien der Ort gänzlich unpassend. Stünden wir dann am Beckenrand, barfuß mit hochgekrempelten Hosenbeinen, weil man doch im Hallenbad, jedenfalls in Berlin, nicht mit Straßenschuhen darf? Doch Corona-bedingt war im Berghof das Schwimmbad, was man mir im Vorfeld nicht mitgeteilt hatte, geschlossen.

Man habe Holzbretter verlegt, mit Teppichboden versehen und alles zu einem riesigen Meeting-Raum umgebaut, erklärte mir die Krankenschwester, nachdem ich sie gefragt hatte, warum die Begrüßung der Neupatienten in einem Schwimmbad stattfinden sollte. Ich konnte meine Enttäuschung kaum verbergen, denn gerade auf dieses im Internet paradiesisch aussehende Schwimmbad hatte ich mich besonders gefreut. In Berlin ist Schwimmen oft schwierig. Es sind nicht nur die anderen Badegäste, die es einem verleiden, weil sie gern quer schwimmen und einen anschnauzen, weil man wie vorgesehen ordentlich geradeaus schwimmt. Auch die Bademeister erschweren einem den Aufenthalt. Vor Corona zitierte mich einer aus dem Wasser und spielte sich als Halbgott vor mir auf, weil ich angeblich nicht richtig in die Runde geschwommen wäre. Ich verstand zwar nicht, was das genau bedeutete, doch aus meiner langjährigen Erfahrung mit einigen Berlinern führt es zu nichts, wenn man sich auf eine Diskussion einlässt. Stur wiederholen sie den immer gleichen Satz, am Ende fühlt man sich wie ein armseliger, schlecht ausgebildeter Soldat, der als geprügelter Hund den preußischen Kasernenhof verlassen muss. Das würde mir im Berghof niemals passieren. Denn dort, so hatte ich mir naiverweise vorgestellt, gäbe es ein 50-Meter-Becken, im Wasser nur vier Personen, die wie ich die magisch aussehenden Berge durch Panoramascheiben bewunderten.

Doch es gab gar kein Schwimmbad mehr, obwohl alle anderen Mitarbeiter und auch die Patienten, wie ich später erfuhr, diesen Ort weiterhin so nannten.

Während ich mit der Krankenschwester sprach – wir befanden uns im Foyer des Berghofes – und kaum verhehlen konnte, wie sehr ich mir ein richtiges Schwimmbad gewünscht hätte – unterbrach sie mich mitten im Satz und sagte, sie habe keine Zeit mehr, sie müsse den Johannes einläuten. Dann ging sie zu einer neben dem Eingang auf dem Boden stehenden Glocke und brachte sie mit einem schwungvollen Klaps zum Schlagen. Dabei glitt ein verzücktes Lächeln über ihr Gesicht. Durch das Fenster vom Foyer konnte ich sehen, wie sich auf dem Marktplatz die Fahrertür eines Autos öffnete und ein alter, weißhaariger Mann ausstieg. Bewegungsunfähig verharrte ich auf meinem Platz neben der Glocke, auf der stand in großen Lettern eingraviert: Bitte den Johannes einläuten.

Die Krankenschwester musste die Glocke immer wieder zum Schwingen bringen, denn der Johannes sah sich lange im Foyer um und winkte wie die englische Königin, vermutlich in Erwartung potentieller Huldigungen. Doch außer der Krankenschwester und mir befand sie niemand im Foyer. Das schien aber den Johannes nicht davon abzuhalten, weiter zu winken, bis er sich umdrehte und dann in einem Gang verschwand.

Selbst nach diesem ungeheuerlichen Schauspiel lief ich nicht in mein Zimmer, um Koffer zu packen, wie es natürlich gewesen wäre. Nein, ich wollte es immer noch nicht wahrhaben, dass ich am falschen Platz, zur falschen Zeit, am falschen Ort war.

Erst wieder in Berlin las ich auf der Webseite des Berghofes, dass der Johannes in seinem früheren Leben Missionar bei den Eingeborenen in Afrika war. (Das nur für alle, die ständig behaupten, man dürfe heutzutage nichts mehr sagen und müsse immerzu politisch korrekt sein. Kommt zum Berghof, dort darf man sich auch 2021 noch ungestraft rassistisch äußern)

Im Foyer wusste ich noch nichts davon und wollte immer noch alles beschönigen. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich ganz freundlich dachte: Ach, diese arme alte Mann, vielleicht ist er krank, das Einläuten der Glocke und verzückte Lächeln der Krankenschwester werden zu seiner Gesundung beitragen. Denn hatte ich nicht 15 Monate in meiner kleinen Küche gesessen, im lauten schwierigen Corona-Berlin, in dem ich mich nur zum Spazierengehen verabreden konnte, obwohl ich eher marschiere. In diesem Punkt hat der preußische Kasernenhof ganze Arbeit geleistet. Ich bleibe auch nie kurz stehen, verharre und hauche: Ach, der Lindenduft schwächt mich so. Nein, ich gehe zügig von A nach B und habe gern ein Ziel in Sicht. Das Schlendern ist mir nicht gegeben, ein Flaneur wird nicht mehr aus mir werden.

Auf dem Berghof, so hatte ich mir naiverweise vorgestellt, würden wir von früh bis spät den Gipfel erklimmen, schwimmen und vor allem nichts von Corona hören. Denn was sollte ein Virus in dieser schönen Umgebung, an der frischen Luft? In den Bergen wird er sich verflüchtigen.

Heute frage ich mich ernsthaft, ob meine spontan aufgetretene Naivität eine bisher unbekannte Nebenwirkung der Corona-Impfung sein könnte? Ich muss mit Christian Drosten darüber sprechen und auch mit Dr. Fauci. Falls meine Einschätzung stimmt, dauern die Nebenwirkungen ungefähr fünf Tage. Bis dahin nahm ich auch die, wie die Ärztin Heike es euphemistisch nannte, Quarantäne light stoisch hin, obwohl man mich auch darüber, genau wie mit dem Schwimmbad, im Vorfeld nicht informiert hatte. Ich ging davon aus, ein voller Impfschutz, der verlangte negative PSR- und noch ein Antigen-Test obendrauf, dazu die tägliche frische FFP2-Maske würde mehr als reichen. Wie mit dem Mutterschiff halfen auch hier die Antworten nicht weiter. Weder die Krankenschwester noch Heike konnten mir eine logische Erklärung bieten. Vermutlich tue ich echten Berlinern, dem Bademeister und allen, über die ich mich gern beschwere, Unrecht. Denn sowohl Heike als auch die Krankenschwester wiederholten gebetsmühlenartig den gleichen Satz, das seien eben die Vorschriften, Punktum.

Nur Lügner, hatte ich von einem Ex-Stasi-Offizier der DDR gehört, sagen immer das gleiche, wer die Wahrheit spricht, variiert.

Aber als Entschädigung, hatte die Krankenschwester ergänzt, dürfe ich allein im Garten auf- und abgehen. Ansonsten müsse ich mich in meinem Zimmer aufhalten.

Die ersten Tage kam ich noch einigermaßen zurecht, auch weil mein Zimmer tatsächlich einen großen Balkon hatte, und man auf die Berge schauen konnte. Anstatt in meiner kleinen Küche zu hocken im schwierigen Corona-Berlin, saß ich jetzt auf dem bayrischen Balkon und verlor mich im Nebel, der zu jeder Tages- und Nachtzeit die Berge in einer anderen Formation umhüllte. Und wenn ich nicht die Landschaft betrachtete, las ich Essays von Marcel Beyer, Putins Briefkasten und Das blindgeweinte Jahrhundert.

Ich schaffte es auch, mir mein Tablett aus dem Speiseraum zu holen, ohne mit anderen Patienten zu sprechen und dann auf dem schönen Balkon zu essen. Doch am fünften Tag klopfte Asti an meine Zimmertür, von da an geriet ich in einen Strudel, dessen Sog ich mir bis heute nicht richtig erklären kann.

Schon ganz zu Anfang, am ersten Tag in der Aufnahme, hatte es eine Art unausgesprochenes Bündnis zwischen Asti und mir gegeben. Allerdings erkannte ich die Bedeutung nicht. Nachdem die Mamas sich von ihren Töchtern verabschiedet hatten – mir schien es, als wäre ihnen die Trennung von ihren Handys schwerer gefallen – saßen wir alle einen Moment lang schweigend da, jede in sich versunken. In diese Stille hinein hörte ich ein lautes Scheppern, irgendetwas aus Glas war zu Boden gefallen. Ich schaute hoch und sah im Türrahmen des Eingangsbereiches stehend eine große, dunkelhaarige Frau, die keinerlei Anstalten machte, sich zu bücken, um die Scherben der zerbrochenen Glasflasche aufzuheben und das sich großflächig verteilende Wasser aufzuwischen.

Später behauptete Asti, die Prinzessin – so nannten wir die große dunkelhaarige Frau – habe die Wasserflasche extra fallengelassen, damit sie die Aufmerksamkeit auf sich zöge. Ich selbst kann das nicht bestätigen, weil ich nicht aufgeschaut hatte. Ich weiß nur noch, dass ich meinen Vintage-Rucksack vor die Brust presste und mich fragte, wann ich endlich in meiner rot-weiß-karierten Bluse in den Wald stechen könnte. Aufgefallen war mir nur, dass Vanessa und Jolanthe gleichzeitig hochgesprungen waren, als hätte ihnen die Krankenschwester bei der Blutentnahme Speed verabreicht. Denn davor kamen sie mir eher wie Stillleben vor. Beide bemühten sich mehr schlecht als recht, den Schaden mit der Wasserflasche zu beseitigen. Man sah gleich, wie wenig Erfahrung sie in praktischen Dingen hatten. Vanessa schnitt sich an einer Glasscherbe, Jolanthe sah unsicher in Richtung der Prinzessin. Bestimmt räumten die Mamas ständig hinter ihnen her.

Anfangs verstand ich nicht, warum Vanessa und Jolanthe der Prinzessin verfallen waren und für sie die seligen Wochen der Züchtigung begannen. Später erklärte mir Asti, die Prinzessin habe in einer Staffel von Germany`s Next Top Model als Kandidatin teilgenommen, es aber dort nicht besonders weit gebracht. Ob das stimmt, konnte ich auch in Berlin nicht verifizieren, da ich wie Asti den Nachnamen der Prinzessin nicht kannte. Wir mussten uns ja duzen, Nachnamen kamen nicht vor. Vom Aussehen her erfüllte die Prinzessin alle Voraussetzungen für Heidi Klums Fleischbeschau: mindestens 1, 80, sehr schlank, wunderschönes, lockiges Haar, große dunkle Augen und ein voller Mund. Alles Attribute, die sich Vanessa und Jolanthe sehnlichst wünschten, Vermutlich hofften beide, die normierte Model-Schönheit der Prinzessin würde auf magische Weise weitergereicht, wenn sie sich nur fleißig genug unterordneten. Aber ich greife vor. Denn ich selbst wusste ja im Aufnahmeraum am allerersten Tag noch nichts von diesen Konstellationen. Ich hatte an einen Troublemaker gedacht, als die Prinzessin im Türrahmen des Aufnahmeraumes lehnte und Vanessa und Jolanthe so diensteifrig ihren Dreck beseitigten. Hoffentlich muss ich mir nicht das Zimmer mit ihr teilen, sie würde mir den Aufenthalt verleiden.

Dann hatte Asti sich neben mich gesetzt, einfach so, ohne groß mit mir zu reden. Von da an saß sie immer neben mir. Schon am ersten Tag in der ersten Stunde unserer Begegnung hatten wir uns in zwei Lager geteilt: Die Prinzessin mit ihren Hofdamen Vanessa und Jolanthe und Asti und ich.

Aber das wusste ich an dem Morgen in der Aufnahme noch nicht, sondern erst nachdem Asti an meine Zimmertür geklopft und ich sie hereingebeten hatte, was verboten war. Ich konnte Asti einfach nicht widerstehen, weil sie so unfassbar süß aussah, mit ihren blonden Haaren, den strahlend blauen Augen und diesem fast noch kindlichen kugelrunden Gesicht. Immer versuchte sie wie mindestens 25 auszusehen, dabei war Asti gerade erst 21 geworden. Ich hätte sie auf 17 geschätzt. Da sie von Beruf Konditorin war und himmlisch schmeckende Pralinen aus eigener Produktion mitgebracht hatte, war noch ein Grund mehr, sie zu mögen.

Sicherlich wäre ich ohne Corona niemals in den Berghof gekommen und falls doch, hätte ich die Sache mit den Pralinen und der Prinzessin anders regeln können. Denn Asti litt schwer unter Bulimie, Süßigkeiten waren das letzte, was sie brauchte. Aber ich war einfach zu lange allein gewesen und fühlte mich mehr als geschmeichelt, als Asti mich zum einen bat, ihre Pralinen zu verstecken, und zum anderen nach der Quarantäne light, mit ihr ein Zimmer zu teilen. Einzelzimmer gab es nur für Privat-Versicherte. Die Krankenschwester hatte uns gesagt, dass die Verteilung der Zimmer von der Verwaltung geregelt wurde und die Patienten wenig Einfluss darauf hatten. Trotzdem wollte Asti einen Versuch wagen.

Stell dir vor, sagte sie breit grinsend und ihr niedliches Grübchen auf der kugelrunden Wange kam zum Vorschein, während sie auf meinem Bett sitzend mit spitzen Fingern in dem blindgeweinten Jahrhundert blätterte, als wäre es giftig, stell dir vor, Siri, du müsstest mit der Prinzessin auf einem Zimmer sein?

Ich musste schrecklich lachen, weil ich ja genau das befürchtete und verschluckte mich an einem Champagnertrüffel.

Warst du eigentlich früher mal schön? fragte Asti.

Bei jedem anderem wäre ich beleidigt gewesen, aber in der unschuldigen Art, in der sie es gesagt hatte, klang es wie das selbstverständlichste der Welt. Ich warf mich neben sie auf mein Bett und aß eine weitere Praline, meine Finger waren schokoladenverschmiert.

Es sah so aus, als hätte es der Berghof geschafft, mich wieder in eine Grundschülerin zu verwandeln. Als ich neun Jahre alt war, bestand mein Leben darin, obsessiv an meine beste Freundin zu denken. Damals litt ich, weil meine, wie wir damals sagten, Klassenkameradin Sabine auf die Idee kam, die besten Freundinnen zu tauschen. Plötzlich sollte nicht mehr Anke meine beste Freundin sein, sondern Sabine, die eigentlich die beste Freundin von Petra war. Seit der ersten Klasse fuhr ich mit Anke im Schulbus, seit der ersten Klasse hielt ich ihr jeden Morgen den Platz neben mir auf dem Hocher frei. So nannten wir höher gepolsterte Sitze, die es nur im hinteren Teil des Schulbusses gab. Wenn mich Sabine, die eine Station nach meiner einstieg, jeden Morgen fragte, ob sie neben mir auf dem Hocher sitzen dürfe, antwortete ich jeden Morgen nein, Sabine, du weißt doch, Anke ist meine beste Freundin.

Ja, antwortete Sabine dann, ich weiß.

Denke ich an meine Grundschulzeit zurück, kann ich mich kaum an den Unterricht erinnern, doch dafür umso mehr an diesen äußerst schmerzhaften Beste-Freundinnen-Tausch. Denn plötzlich saß Sabine tatsächlich jeden Morgen auf dem Hocher neben mir, weil sie uns alle überrumpelt hatte und von da an meine beste Freundin wurde und nicht mehr meine geliebte Anke, die jetzt die beste Freundin von Petra sein sollte. Wie Sabine das geschafft hatte, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben. Als ungewollte beste Freundin von Sabine musste ich ihr nicht nur den Hocher freihalten, sondern auch ihren Tornister tragen und die, wie wir es damals nannten, Päckchen vorrechnen. So hießen seltsamerweise unsere Rechenaufgaben oder wir nannten sie nur so und nicht die Lehrerin, die wir mit Fräulein Klein ansprechen mussten. Auch meine französische Klavierlehrerin hieß für alle Mademoiselle Dorléac. Beide waren über 60.

Darüber hätte ich mit Asti in meinem Zimmer auf dem Berghof sprechen sollen. Liebe Asti, hätte ich sagen müssen, du bist das Entzückendste, was ich seit langem gesehen habe. Aber schau doch bitte, ich komme aus einer Zeit, in der man Fräulein und Klassenkameradin sagte. Und die Sache mit den Freundinnen liegt lange hinter mir.

Aber ich sagte nichts davon, weil anscheinend nichts hinter mir lag. Ich versteckte Astis Pralinen in der Schublade des Nachtkästchens, zusammen mit meinem iPhone, dass ich nicht, wie es zu den verbindlich-therapeutischen Vereinbarungen des Berghofes gehört, entweder gleich zuhause gelassen oder abgegeben hatte. Bei der Registrierung log ich und sagte, ich hätte nur einen alten Nokia-Knochen, den ich selten benutzte, weshalb ich ihn erst gar nicht mitgebracht hätte. Zur Unterstützung meiner fingierten Technikfeindlichkeit hatte ich den weit geöffneten Vintage-Rucksack auf meinen Schoß gestellt, damit der Blick der Krankenschwester auf Marcel Beyers Bücher gelenkt wurde. Mein billiger Trick funktionierte, wer liest und kein iPhone besitzt, gehört definitiv der gestrigen, analogen Welt an. Handyfrei, schrieb die Krankenschwester auf ihr Formular. Und deshalb konnte ich Asti, als sie mir ihre Pralinen anbot, im Gegenzug mein iPhone geben, auf dass sie sich mit einem Aufschrei stürzte und in Windeseile Nachrichten tippte, als könnten ihre Daumen und Zeigefinger fliegen.

Schon nach so kurzer Zeit waren wir Komplizen geworden, die zusammen auf einem Bett Pralinen aßen und das Bettzeug mit Schokolade verschmierten. Das war wieder ein Grund zum Lachen, wobei der Anlass inzwischen egal geworden war. Asti und ich fanden alles lustig. Selbst über winzige Kleinigkeiten wie die hässlichen, esoterischen Bilder an der Wand kugelten wir uns. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal so viel gelacht hatte und so furchtbar albern war. Darüber vergaß ich meine Verabredung mit dem, wie es im Berghof-Jargon hieß, Paten, der mich zur Orientierung durch den Berghof führen sollte. Als mein Pate über das Haustelefon anrief und wissen wollte, wo ich bliebe, konnte ich mich kaum halten vor Lachen. Ich japste nach Luft, so dass der Pate dachte, ich würde weinen. Deshalb musste ich noch mehr lachen und kam mir vor wie das giggling girl in meiner Zeit als Austauschschülerin in England. Giggling girl war ein Spitzname, den mir meine Gastmutter in Sussex gegeben hatte, weil ich von morgens bis abends lachen musste und deshalb im strengen, englischen Schulunterricht oft vor die Klassenzimmertür gesetzt wurde.

Die Quarantäne light war an diesem Abend beendet, die Prinzessin mit ihren Hofdamen und auch Asti waren nach 20 Minuten mit der Führung fertig. Nur bei mir zog sie sich über zwei Stunden hin. Mein Pate, ein pensionierter Oberstudienrat aus Salzgitter und zur Rauchentwöhnung in der Klinik, erläuterte mir die Topographie des Berghofes so detailliert, als wäre ich beim ersten Spatenstich dabei gewesen. Während er von der Entkernung, die noch in die Zeit reichte, als der Berghof als Hotel fungierte und sachverständig über das neue Verbindungsstück zwischen Haus 1 und Haus 2 sprach, überbrach er sich plötzlich und forderte mich auf, das letztgenannte zu wiederholen. Da es mir bisher nicht aufgefallen war, dass sich der Berghof aus verschiedenen Häusern zusammensetzte, sagte ich gar nichts. Das schien ein Fehler gewesen zu sein, denn der Pate fragte mich mit einem aggressiven Unterton, ob sich der Raum mit den Waschmaschinen in Haus 1 oder Haus 2 befinde?

Vermutlich stand ich kurz davor, mir einen Tadel einzufangen, sollte ich die Antwort nicht wissen. Ich wartete einen Moment lang ab, ob der Pate noch etwas hinzufügen würde, irgendetwas Lustiges, dass mir suggerierte, es handele sich um einen Scherz, in dem wir Schule nur spielten. Aber der Pate sah mich mahnend an. Ich warte, sagte er und meinte es genauso ernst wie die Krankenschwester, als sie den Johannes einläutete.

In solch heiklen Situationen entscheiden ja Bruchteile von Sekunden, in welche Richtung die Stimmung kippen wird. Vor Corona wäre ich sicherlich spätestens an dieser Stelle aus der Geschichte ausgestiegen. Doch am fünften Abend im Berghof am Ende der Quarantäne light dachte ich an den See, in dem ich mit Asti schwimmen würde, natürlich erst, nachdem wir den Gipfel erklommen hatten, in meiner rot-weiß-karierten Bluse und dem Vintage-Rucksack.

Deshalb sagte ich dem Paten, ich litte unter Orientierungslosigkeit, die Lage von Etagen, Fluren und Zimmern in Gebäuden könnte ich mir genauso schlecht merken wie Straßenverläufe. Selbst in Berlin, in der Stadt, in der seit 40 Jahren lebte, verliefe ich mich und müsste die Touristen fragen, wo ich mich gerade befände. Meine Orientierungslosigkeit, sagte ich dem Paten, sei auch ein Grund, warum ich in den Berghof gekommen sei, zusammen mit dem Madame-Bovary-Syndrom.

Letzteres hatte ich mir im Vorfeld ausgedacht, weil ich natürlich triftige Gründe brauchte, um in den Berghof zu gelangen. Zum einen fand ich Madame-Bovary-Syndrom klang mondän – jedenfalls besser als posttraumatische Belastungsstörung oder Burnout – und zum anderen dachte ich, mit so einem Spleen könnte ich im Garten des Berghofs ungestört lesen, was quasi eine Grundvoraussetzung des Madame-Bovary-Syndroms ist. Lesend entfernt man sich immer mehr von der Realität, sagte ich dem Paten und sah, wie es in ihm arbeitete.

Endlich hatte meine jahrzehntelange Erziehung auf dem preußischen Kasernenhof Früchte getragen. Endlich hatte ich verstanden, wie es läuft. Allein dafür lohnte sich der Berghof. Als echter Berliner geht man grundsätzlich davon aus, dass der Nicht-Berliner ein Banause ist, der eben nüscht kennt, weil er leider aus Hintertupfing kommt. Das macht den echten Berliner qua Geburt - ohne jegliche Anstrengung - zu etwas Besonderem, um das ihn alle aus Hintertupfing beneiden.

Nach zwei Stunden Führungsfolter durfte ich abtreten. Der Pate gab sich geschlagen, der Oberstudienrat für Mathematik und Physik hatte noch nie von Madame Bovary gehört und konnte es nicht zugeben. Da der echte Berliner kein Mitleid kennt– was geht mir fremdet Elend an – ging ich grußlos.

Als ich am nächsten Morgen, einem Sonntag, bei strahlend blauem Himmel und sommerlich heißen Temperaturen in meiner rotweiß-karierten Bluse und dem Vintage-Rucksack in den Speisesaal trat, um mit Asti den Gipfel zu erklimmen, kam sie mir tränenüberströmt entgegen.

Die Essstruktur-Therapeutin, sagte sie mit erstickter Stimme, jedenfalls verstand ich dieses Wort. Wegen des vielen Weinens hatte sie vermutlich einen Schluckauf bekommen. Im Alter von 21 war ich auch immer so verzweifelt wie Asti jetzt. Ich hatte zwar vergessen, warum, aber ich erinnerte mich, wie untröstlich ich damals oft war. Nur hatte mir damals niemand gesagt, dass man selbst in größter Verzweiflung noch niedlich aussieht, wenn man jung ist. Allerdings erinnerte ich mich auch noch daran, wie sehr es mich früher kränkte, wenn man mich mit Nichtigkeiten ablenken wollte. Deshalb stand ich unschlüssig auf der wunderschön angelegten riesigen Terrasse mit Panoramablick auf die Berge. Die Aussicht hätte Asti nicht helfen können, weil sie aus dem Berchtesgadener Land kommt und diese Postkarten-Idylle zu ihrem Alltag gehört.

Nachdem ich es wenigstens geschafft hatte, Asti an einen Tisch zu setzen, kam eine Frau auf uns zu. Im ersten Augenblick erschien sie mir halbiert, alles an ihr schien zu wenig, zu wenig Gesicht, zu wenig Oberkörper, zu wenig Beine. Es gibt zwar in Woody Allen-Filmen keine halbierte Frau, aber ich bin sicher, Woody Allen hätte es, genial wie er ist, so arrangiert, dass die Frau morgens aufwacht und plötzlich nur die Hälfte von ihr sichtbar ist. Niemand weiß, warum, deshalb suchen alle Darsteller den ganzen Film über nach der anderen Hälfte.

Einen Moment lang war ich völlig davon überzeugt davon, ich wäre nur in den Berghof gekommen, um Woody Allen die andere Hälfte seiner Figur zu bringen. Dieser Gedanke beflügelte mich derart, dass ich mit meinem Vintage-Rucksack eine Spur zu forsch und fröhlich auf die Halbierte zuging.

Sind Sie auf der Suche nach etwas? fragte ich die Frau, noch ganz in meine Film-Idee versunken.

Zum einen duzen wir uns, zum anderen habe ich alles in meinem Leben gefunden, sagte die Halbierte so unendlich langsam, dass ich dachte, Woody Allen hätte sie auf Zeitlupe gestellt.

Im Übrigen, fügte die Halbierte noch langsamer hinzu, bin ich die Essstruktur-Therapeutin.

Leider konnte ich es nicht lassen, die Halbierte zu fragen, ob man es hässlicherweise mit drei – s- schreibt oder einen Gedankenstrich zwischen Ess und Struktur setzt. Im normalen Leben wäre das sicher ein gutes Entree für einen netten Small Talk gewesen, wir hätten alle einen Kaffee trinken können und dann wäre ich mit Asti gewandert, singend und jubilierend wie die Zwillinge Isa und Jutta Günther im doppelten Lottchen.

Vermutlich gehört Kitsch auch zu den bisher unbekannten Nebenwirkungen der Corona-Impfung. Während ich mich fragte, woher plötzlich mein dringlicher Wunsch nach Idylle kam und ich die Sache mit den drei -s- schon fast vergessen hatte, sagte die Halbierte in einem schnellen, abgehackten Tonfall, den ich ihr gar nicht zugetraut hätte, ich befände mich in der Widerstanddynamik und könne auf keinen Fall Astis Sponsor werden. Mir fehle jegliche Ernsthaftigkeit dazu, das könne man gleichsehen.

Nachdem ich Mutterschiff und Pate noch einigermaßen geschluckt hatte, wurde ich bei diesen seltsamen Wörtern der Halbierten doch hellhörig. Gerade wollte ich fragen, was man unter Widerstandsdynamik und Sponsor genau verstand, da zupfte Asti mich an meiner rot-weiß-karierten Bluse. Deshalb schwieg ich, obwohl ich an diesem warmen, schönen Bilderbuch-Sommer-Sonntag genau wusste, dass ich nicht mehr heil aus der Sache herauskommen würde. Wie früher in der Grundschule, wenn ich zu lange mit Anke, Sabine und Petra im Unterricht geschwatzt oder die verhassten Jungen mit nassen Papierkügelchen beschossen hatte, musste ich ins Büro der Halbierten und wurde im barschen Ton zur Raison gebracht. Dort erklärte sie mir, dass aufgrund Astis schwerer Bulimie sie täglich dreimal an einem Essstruktur-Tisch sitzen müsse und dort von einem Sponsor betreut würde. Dieser Sponsor, der ein Patient sei, kontrolliere, ob Asti alles aufgegessen und nichts gehortet habe. Erst dann dürfe Asti sich vom Tisch wegbewegen. Außerdem spreche man während der Mahlzeiten nicht, auch nicht über eine singende und jubilierende Gipfelbesteigung in rotweiß-karierter Bluse, sagte die Halbierte, und ich errötete zum ersten Mal seit Jahrzehnten. Da ich die rot-weiß-karierte Bluse in mehreren Ausfertigungen besitze, hatte ich Asti eine geschenkt, damit wir wenigstens ein ganz kleines bisschen wie das doppelte Lottchen aussahen. Wie lächerlich das bei unserem Altersunterschied wirken musste, fiel mir erst in Berlin auf.

Ob sie die süße, altmodische Verfilmung mit Isa und Jutta Günther kenne, fragte ich fatalerweise die Halbierte und fürchtete, sie würde mir gleich an die Gurgel gehen, denn ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.

Für solche Sentimentalitäten habe sie keine Zeit, außerdem lebe sie medienfrei, antwortete die Halbierte. Und damit begannen die direkten oder indirekten Vorwürfe, ich sei eine durch und durch oberflächliche Person, die mir auch später im Tribunal gemacht wurden. Aber bevor ich mich im Büro der Halbierten verteidigen oder anmerken konnte, dass ich unter einem Sponsor etwas Gebendes verstünde und keinen Stasi-Offizier, ignorierte sie meinen Kommentar und fügte noch hinzu, Bergtouren seien Coronabedingt verboten, der See zu weit entfernt, Asti würde dann ihre Essstruktur verpassen.

Dreimal am Tag war Asti mindestens jeweils zwei Stunden damit beschäftigt, sich und ihr Essen kontrollieren zu lassen. Sowohl die Halbierte, die nicht bei jeder Mahlzeit, aber doch immer unangemeldet im Speisesaal auftrat als auch der Sponsor achteten akribisch genau darauf, wie Asti mit ihrem Essen umging. Doreen, eine vierzigjährige Standesbeamtin aus Grimma, die gerade ihre Magersucht überwunden hatte, ließ nicht einmal winzige Krümel auf Astis Teller gelten. Weigerte sie sich, diese aufzuessen, musste Asti ein Rückfallprotokoll ausfüllen Dabei handelte es sich um eine Excel-Tabelle, die in ihrer Detailliertheit an ein Kursbuch der Deutschen Bundesbahn erinnerte. Mein Rat, Doreen zu fragen, ob man den Teller ebenfalls mitessen müsse, wurde als kontraproduktiv geahndet.

Seltsamerweise firmierten all diese erzieherischen Maßnahmen unter dem Deckmantel der Genesung von Asti. Sprach ich die Halbierte darauf an, hieß es, ich käme aus der Party-Hauptstadt und kenne eben keine Grenzen. Mit Doreen brauchte ich erst gar nicht darüber sprechen, die Hofdamen der Prinzessin hatten bienenfleißig beobachtet, wie mich die Halbierte zur Rede stellte. Danach grüßte mich Doreen nicht einmal mehr.

Wegen meines angeblich schlechten Auftritts auf der Terrasse und meines sowieso unguten Einflusses hatte ich jegliche Berechtigung auf ein gemeinsames Zimmer mit Asti verwirkt. So wurde es später öffentlich vor versammelter Mannschaft im Tribunal beschlossen. Natürlich hieß es nicht so, im Berghof-Jargon nannte man es beschönigend Meeting. Für mich kam es einem Tribunal gleich.

Hätte ich nicht 15 Monate in meiner kleinen Küche gesessen und nicht unbedingt weggewollt aus dem schwierigen Corona-Berlin wäre mir die Sache mit den Meetings im Vorfeld aufgefallen. Mit etwas mehr Weitblick hätte man auf der Webseite des Berghofes lesen könnten, dass es sich dabei um so etwas Ähnliches wie marxistisch-leninistische Selbstkritik in einer esoterischen Spielart im handelt. Natürlich würde der Berghof diese Formulierung von sich weisen.

Als ich zum ersten Mal in so einem Meeting saß, selbstverständlich Asti neben mir, musste ich mir ein Taschentuch in den Mund stopfen, um mein Lachen zu unterdrücken. Das Meeting fand im umgebauten Schwimmbad statt, der Boden knarrte ständig. Die etwa 40 Patienten saßen auf Stühlen in einen Halbkreis, der durch einen großen Tisch geschlossen wurde. An diesem befanden sich die Ärztin Heike und eine Therapeutin, die darauf bestand, dass man sie bei ihrem Spitznamen Hansi nannte, als wäre sie ein Wellensittich. Ebenfalls mit an diesem großen Tisch saßen zwei Patientinnen, die das Meeting moderierten. Wie alles, was ich bisher im Berghof gesehen hatte, geschah dieses mit einer Heiligkeit, als befänden wir uns auf dem letzten Abendmahl.

Bis zum Ende meines Aufenthaltes im Berghof hat sich mir nicht erschlossen, warum jeder und jede, wirklich alle, jedes Mal, wenn sie in den Meetings zu sprechen anfingen, hallo sagten und dann wie sie heißen. Sprach die Ärztin, sagte sie: Hallo, ich bin Heike. Dann antwortete die Gruppe: hallo Heike.

Da sowohl die Ärztin als auch die Therapeutin und ebenfalls die moderierenden Patientinnen ständig auf diesen Meetings sprachen, hörte man während der etwa 90-minütigen Dauer zig Mal diese schräge Abfolge. Manche Patienten, das wurde mir von Hansi erklärt, hatten auch einen so genannten Einstellungssatz, den sie nach dem Hallo, ich bin soundso sprachen. Doreen sagte zum Beispiel: Hallo, ich bin Doreen, ich bin die Königin in meinem Reich.

Da die meisten der Patienten so fügsam waren, aber trotzdem nicht immer wussten, ob nach dem Hallo, ich bin Soundso noch ein Einstellungssatz kam, überschnitten sich das Hallo, ich bin soundso mit dem Einstellungssatz und dem Hallo Soundso der fügsamen Patienten. Manche hatten auch einen endlos langen, grammatikalisch falschen Einstellungssatz wie: Hallo, ich bin Viktor, ich bin groß, ich bin erwachsen, ich lebe mein eigenes Leben, Dasein im Hier.

Sicherlich vergingen 30 Minuten nur mit diesen ideologischen Begrüßungsritualen. Jedes Mal, wenn Doreen Hallo, ich bin Doreen, ich bin die Königin in meinem Reich sagte, und sie sagte es sehr oft, weil sie nicht nur Astis Sponsor war, sondern auch als Patientin das Meeting moderierte, vermieden Asti und ich uns anzusehen.

So wie ich von Anfang an im Berghof alles falsch machte und es auch keine Chance gab, mir durch Selbstkritik, Terrassen, Stuhl- oder Herzchen- und Bienchen-Basteldienst einen Vorteil bei der Leitung zu verschaffen, war mir mein erster Auftritt im Meeting auch misslungen. Ich hatte mich auch nach dreimaliger Aufforderung geweigert zu sagen: Hallo, ich bin Siri. Seltsamerweise waren es die moderierenden Patientinnen, die mich des Raumes verweisen wollten und nicht die zuständige Ärztin oder Therapeutin. Vermutlich hätten mich die moderierenden Patientinnen gelyncht, wenn sie die Erlaubnis dazu gehabt hätten.

Wenn man auf diesen Meetings etwas sagen wollte, musste man sich in die Mitte des Raumes stellen. Viermal in der Woche nannte man das den Schmetterling machen. Samstags gab es das so genannte Kuschel-Komitee, in der sich die Patienten selbst gebastelte Herzchen oder Bienchen überreichten. Aber auch dieses geschah nach einer genauen Abfolge von Regeln, die so statisch wirkten, als würden Laienschauspieler auf einer Freilichtbühne Roboter imitieren.

Kaum jemand - und ich habe bestimmt 20 dieser Meetings absolvieren müssen - schaffte es ohne ständiges Knarren der Holzbretter, die über das Becken des Schwimmbades verlegt worden waren, in die Mitte des Raumes zu treten, um dort den Schmetterling zu machen. In der Rückschau kommt es mir vor, als wären diese laut knarrenden Holzbretter das einzig Authentische im Berghof gewesen.

Sehr viele Patienten, vor allem männliche, die sich mehrmals wöchentlich in diesen Hexenkessel begaben, trugen ein Stofftier im Arm. Meistens handelte es um gefleckte Hunde, es gab aber auch Bären und Löwen, alle mit dem Kindchenschema versehen.

Da standen sie dann und begannen fast immer nach ihrem Einstellungssatz damit, dass sie sehr aufgeregt seien, ihr Herz klopfe und sie lernen wollten, ihre Gefühle zu zeigen. Das innere Kind werde ihnen dabei den Weg weisen.

Das innere Kind steht für traumatische Erfahrungen und Gefühle aus der Kindheit, jetzt als Erwachsener hilft einem der Berghof dabei, dieses innere Kind zu wiegen, hegen und pflegen, ganz achtsam, quasi als Wiedergutmachung dessen, was die eigene Mutter einem verwehrt hat.

Dietmar, der auch die morgendliche Meditation leitete und immer von einem Gruppenengel sprach, den er gerade durch den Raum habe huschen sehen, nahm wie einige andere Patienten auch, sein inneres Kind mit zu den Mahlzeiten, und sprach mit ihm und tat so, als würde der kleine Dietmar mitessen, während ich um Fassung ringend ihm gegenübersaß. Glücklicherweise setzte die Köchin dem Ganzen ein Ende. Stofftiere bei Tisch, auch wenn man sie nur pseudofüttere, seien unhygienisch.

Übrigens war die Köchin außer Asti die Einzige, die mich schätzte und mir manchmal extra Kaffee kochte. Erlaubt war morgens nur eine Tasse. Anfangs dachte ich, es handele sich um koffeinfreien Kaffee, weil er nach nichts schmeckte.

Das Essen wurde im Speisesaal an einer Theke ausgegeben, man stand in einer langen Schlange und musste der Köchin mitteilen, was man essen möchte. Dann packte sie alles auf einen Teller und reichte ihn über den Tresen. Als ich einmal morgens an der Theke stand und sagte, zwei Brötchen, Marmelade, Butter und Joghurt, schaute die Köchin auf und rief laut in Richtung der anderen wartenden Patienten, man möge sich ein Beispiel an mir nehmen. So bestelle man richtig: deutlich und schnell, ohne alles mehrmals zu revidieren, wie einige Grazien hier im Raum. Damit war die Prinzessin gemeint, die täglich versuchte Pizza ohne Boden oder Brötchen ohne Brötchen zu bestellen. Und wenn sie von der Köchin weitergewinkt wurde, ohne irgendetwas zu bekommen, sprangen die Hofdamen ein und brachten ihrer Angebeteten einen Teller an den Tisch. Den Boden der Pizza hatten sie ungeschickt entfernt, der Rest lag unappetitlich da. Meistens reichte eine hochgezogene Augenbraue der Prinzessin, schon sprangen die Hofdamen wieder los, um die Köchin zu überreden, ihnen ausschließlich Gemüse zu geben.

Später stellte sich heraus, dass die Köchin aus Berlin stammt. Auch in diesem Punkt ist meine jahrzehntelange Erziehung auf dem preußischen Kasernen- für den Berghof nur förderlich gewesen. Denn ohne den extra für mich gebrühten starken Kaffee hätte ich den Aufenthalt kaum überstanden.

Anfangs ging ich davon aus, den Schmetterling machen hieße, sich in eine neue Richtung zu entwickeln und diesen Schritt im Meeting mitzuteilen. Ich stellte mir etwas Leichtes, Flirrendes, Zartes vor, eben all das Verheißungsvolle, was man mit einer Verpuppung verbindet. Aber im Berghof versteht man darunter, sich selbst öffentlich zu denunzieren und es dann von den anderen Patienten noch einmal gespiegelt zu bekommen, damit man sich anschließend richtig schlecht fühlt. Doppelt hält besser.

Eine junge Frau, die sich Kamilla nannte und ihren eigentlichen Namen nicht sagen wollte, trat an dem vierten oder fünften Meeting, an dem ich teilnahm, in den Hexenkessel. Ich fand sie gleich sympathisch, weil sie kein Stofftier im Arm trug und kein Wort über das innere Kind verlor. Da sie so wenig wog, knarrte kein einziges Holzbrett. Einen Moment lang fürchtete ich, mit dem kräftigen Luftzug, der von der geöffneten Terrassentür herüberwehte, würde sie vom Boden abheben. Aber sie musste ihre Tränen unter Kontrolle bringen. Dann fing sie genauso an wie alle die anderen Patienten im Hexenkessel vor ihr: Kamilla sagte wie Dietmar, Doreen, Annette oder Ludger, sie sei sehr aufgeregt, ihr Herz klopfe sehr stark, sie müsse uns dringend etwas mitteilen. Mit diesem Berghof-Standardsatz leitete sie über ihn ihre, wie sie es nannte, Romanzensucht, unter der sie schrecklich leide. Für sie sei die Welt ein immerwährendes Candle Light Diner, langsamer Jazz und Gallonen von Rosenblüten, die den Weg vom Flur zum Schlafzimmer säumen. Dafür brauche sie natürlich monatlich mindestens einen, wenn nicht zwei neue Männer.

Ich erinnere mich noch genau, wie mich an dieser Stelle eine Klarheit überkam, von der ich lange Zeit nicht gewusst hatte, dass ich überhaupt über so etwas verfüge. Als ich aufstand, stampfte ich über die Holzbretter, damit sie noch mehr Krach als sonst machten. Allen Regeln der Meeting-Leitung trotzend, ohne zu sagen: Hallo, ich bin Siri – Hallo Siri stellte ich mich vor Kamilla in den Hexenkessel und fragte, ob sie sich mit Nebel auskenne. Ihre Schulzeit liege ja noch nicht so lange zurück wie meine und da sie aus der Gegend vom Berghof stamme, sei sie sicherlich in Nebelkunde unterrichtet worden und wisse, warum die Berge zu jeder Tages- und Nachtzeit von Nebel umhüllt seien.

Nachdem ich zu Ende gesprochen hatte, wurde es so still, dass ich annahm, ich könnte gleich meine Koffer packen. Kamilla sah mich entgeistert an, die Tränen waren versiegt. Dann bekam ihr Gesicht einen empathischen Zug. Aber Siri, sagte sie zu mir und streichelte liebevoll meinen Oberarm, du musst mich doch jetzt spiegeln.

Mit der Hand schob ich meine Maske ein Stück in den Mund und biss darauf, um nicht zu lachen. Eigentlich hatte ich gehofft, mit dieser Aktion einen wichtigen Schritt in Richtung Herauswurf initiiert zu haben. Aber auch Heike und Hansi stellten es so da, als wisse ich nicht, wie spiegeln im Berghof geht:

Aber Siri, du musst doch sagen, ich nehme dich sehr aufgeregt wahr.

Aber Siri, du musst doch sagen, ich spüre deine Traurigkeit.

Aber Siri, du musst doch sagen, ich höre dein Herz schlagen.

Während Heike mich instruierte, wie man richtig spiegelt, sprachen die moderierenden Patientinnen im Chor mit. Einen Augenblick kam es mir so vor, als wäre ich in einer Inszenierung des verstorbenen Einar Schleefs, der so wunderbar Schauspieler chorisch arrangieren konnte. Ich musste nur noch ein bisschen warten, gleich würde der Vorhang fallen und ich wieder in meiner kleinen Küche im schwierigen Corona-Berlin hocken. Ich versuchte auf Zehenspitzen aus der Geschichte auszusteigen. Doch es war Asti, die mich aus dem Hexenkessel holte, in dem sie mich unterhakte und ins Freie brachte. Wie ich trug sie die rot-weiß-karierte Bluse.

Weißt Du, Siri, sagte Asti, als wir im Garten standen und uns niemand mehr hören konnte, ab heute tun wir jeden Tag etwas Verbotenes oder auch zweimal.

Allerdings war das nicht leicht, man musste sich wirklich anstrengen, die Regeln zu brechen. Asti wollte sich gern Siri auf die Innenseite ihres linken Handgelenkes tätowieren lassen. Ich kann nur von Glück sagen, dass es weder im Ort noch in der Kreisstadt ein Tätowierungsstudio gab, Denn, sagte ich zu ihr, sie habe doch auch noch ein Leben nach dem Berghof, in dem ich bestimmt kaum vorkommen würde.

Aber Siri, rief Asti, wir hatten uns hinter einem Busch im Garten des Berghofs versteckt und tranken heimlich im Ort gekauften Sekt, ich werde dich niemals vergessen. Dabei sah sie mich so aufrichtig an, dass ich mich ganz schlecht fühlte mit all meinem blöden Idyllen-Wünschen und meiner gefälschten Bewerbung für den Berghof.

Wie früher auch mit Anke, verbrachte ich danach jede freie Minute mit Asti. Wie früher in der Grundschule gingen wir auch zusammen auf die Toilette, saßen auf dem Badewannenrand, während die andere auf der Kloschüssel hockte. Dabei sprachen wir unaufhörlich, so wie ich auch mit Asti immerzu sprach. Obwohl mehr als dreißig Jahre zwischen uns lagen, hatte ich mich entweder auf magische Weise verjüngt oder Asti war älter geworden. Es machte uns auch großen Spaß, die Prinzessin warten zu lassen, wenn sie an die Badezimmertür klopfte. Vermutlich hatte die Halbierte ihre Hände im Spiel, als sie mir die Prinzessin aufhalste und ich mit ihr das Zimmer teilen musste. So jedenfalls war es im Tribunal beschlossen worden, und alle außer Asti und mir hatten dafür gestimmt. Schlimmer hätte man mich wirklich nicht bestrafen können. Abgesehen von den mindestens 20 Gepäckstücken und drei Kosmetikkoffern, die die Hofdamen in mein Zimmer schleppten und den Inhalt so verteilten, dass es für mich kaum Platz gab, brauchte die Prinzessin morgens und abends mindestens zwei Stunden im Badezimmer. Asti meinte, es dauere so lange, weil sie den Gruppenengel und alle inneren Kinder ebenfalls waschen und an- und ausziehen müsste. Da viele Patienten so eine schlimme Mutter hatten, wären doch zwei Stunden wenig für all die Wiedergutmachung. Die Prinzessin selbst wechselte mehrmals täglich die Kleidung, manchmal erschien sie in seltsamen Phantasie-Uniformen, die mich an die Bühnen-Outfits von Micheal Jackson erinnerten. Es gab immer viel Gold und funkelnde Epauletten an der Schulterpartie.

Ich jedenfalls kam mehrmals zu spät zum Frühsport und musste mich anschließend im Meeting dafür rechtfertigen. Wobei ich nicht hätte entscheiden wollen, ob es schlimmer war, morgens nicht ins Badezimmer zu können oder den Frühsport zu verpassen.

Zu meiner Ehrenrettung muss ich sagen, dass man zur Vorbereitung auf den Klinikaufenthalt nichts über diese infantile Form der Bewegung auf der Webseite des Berghofes hätte lesen können. Es steht nirgendwo, dass man sich von Montag bis Freitag um 6 Uhr morgens zum Affen machen soll. Amrei, eine kleine drahtige Schwäbin Anfang 30 verniedlichte und verleidete mir all meine geliebten Yogaübungen, so dass ich später in Berlin Mühe hatte, mich überhaupt wieder sportlich zu betätigen. Bei der Übung Katze Kuh, bei der man im Vierfüßler-Stand einmal den Rücken durchstrecken und dann einen Buckel machen musste, sollten wir jeweils muhen und miauen. Dann transformierten wir in die angeblich so süßen Computeranimierten Kinderfilm-Fische Nemo und Dorie, die sich angeblich wellenartig bewegten. Und so ging es weiter und weiter mit all den schrecklichen Figuren aus noch schrecklicheren Blockbustern.

Am Schluss des immerhin 45-minütigen Frühsports, der auf der wunderschönen Terrasse stattfand, sollten wir dreimal in die Luft springen und schreien, ja wirklich schreien – dazu motivierte uns Amrei lauthals:

Wir begrüßen den Morgen!

Wir lieben das Leben!

Wir freuen uns auf jeden Tag!

Die Prinzessin ging weder zum Frühsport noch zu Dietmars anschließender morgentlicher Meditation. Entweder fälschten die Hofdamen ihre Unterschrift – wir mussten uns in Listen eintragen, die kontrolliert wurden – oder Dietmar deckte die Prinzessin. Wahrscheinlich stimmte letzteres, denn nachdem er sich mittags zu ihr an den Tisch gesetzt hatte, ohne ein Wort zu sprechen und sie nur verliebt anstarrte, waren beide einige Zeit später verschwunden. Danach tauchte die Prinzessin vor dem Frühstück nirgendwo mehr auf, blockierte aber weiterhin das Badezimmer. Da ich es aufgegeben hatte, mit ihr zu sprechen, weil sie entweder schlief oder sich wegdrehte oder mir über ihre Hofdamen mitteilen ließ, ich habe sie beleidigt, ignorierte ich sie. Vanessa und Jolante, die mehrmals täglich an unsere Zimmertür klopften und wissen wollten, warum die Prinzessin nicht zur verabredeten Zeit gekommen sei, öffnete ich nicht mehr oder gab ihnen extra falsche Informationen.

Ein paar Mal hatten Asti und ich versucht, mit allen dreien spazieren zu gehen oder einfach nur am Wochenende zusammen auf dem Liegestuhl im Garten zu liegen. Doch war es unmöglich, es der Prinzessin recht zu machen, immer war es ihr zu heiß, zu kalt, zu feucht, zu trocken. Egal, was ihre Hofdamen anschleppten, es war nicht richtig und erinnerte mich an Sabine, der ich angeblich den Tornister falsch trug.

Obwohl die Prinzessin im breitesten Ruhrgebiet-Dialekt sprach, betont extra unhöflich war und aus heiterem Himmel detailliert Sexgeschichten erzählte, mit denen sie die Hofdamen schockierte, verwandelte sie sich seltsamerweise bei Tisch in eine Dame, bei der alles comme il faut ablief. Mademoiselle Dorléac hätte ihre wahre Freude an der Prinzessin gehabt. Formvollendet hielt sie Messer und Gabel, tupfte ihren Mund mit einer Serviette ab, bevor sie trank. Wenn Vanessa oder Jolante sie zum wiederholten Mal baten, von Germany`s Next Top Model zu erzählen, schwieg die Prinzessin vornehm oder schüttelte nur den Kopf, wenn eine der Hofdamen den Fisch mit dem Messer zerpflückte. Also bitte, hauchte sie, wenn es schon kein Fischmesser gibt, dann nimm wenigstens die Gabel.

Nach dem letzten Bissen stand sie dann wie gewohnt polternd auf, manchmal fiel ein Stuhl zu Boden, einer der Hofdamen eilte zur Hilfe, übellaunig und laut Befehle austeilend verließ sie den Speisesaal, um dann wieder zu schlafen, falsche Wimpern anzukleben oder ihr schönes, lockiges Haar aufzutürmen. All diese Handgriffe wirkten sehr professionell, so dass ich versuchte, mir heimlich etwas davon abzuschauen, was ich natürlich niemals offen zugegeben hätte, vor allem nicht vor den Hofdamen. Im Laufe unserer gemeinsamen Wochen hatten sich Vanessa und Jolanthe online falsche Wimpern, Haarteile und sehr hohe Schuhe bestellt. Aber leider scheiterten alle Versuche auf dem langen Gang vor unserem Zimmer, den sie in einen Catwalk verwandelt hatten. Ihnen fehle jegliches Talent, allein schon wegen der geringen Körpergröße und der vielen Kilos, sagte die Prinzessin, und zum ersten Mal taten mir Vanessa und Jolanthe leid.

Was sie genau in den Berghof geführt hatte, konnte ich bis zum Schluss nicht herausfinden. Asti meinte, die Prinzessin wolle sich den Chefarzt Tim-Volker angeln, den sie schon von einem anderen Aufenthalt in einer anderen Klinik kenne. Aber da sie wie ich keine Privatprinzessin war, konnte ich mir nicht vorstellen, wie sie an ihn hätte herankommen können. Denn ich habe Tim-Volker nach der Begrüßung nie wieder gesehen und bin ihm auch nicht im Gebäude begegnet. Falls es doch geklappt hat, wünsche ich viel Glück, ein langes Eheleben und gute Fischmesser.

Letztendlich muss ich dem Berghof meine Hochachtung aussprechen, denn obwohl ich alles daransetzte zu fliegen, sprach Heike immer wieder von Therapiegeschenken, die ich nur nicht anzunehmen wüsste. Die Prinzessin sei eine, sagte Heike, wunderbare Gelegenheit, nicht mehr in die Welt der Literatur zu flüchten. Am besten, ich stelle mich ihrem flatterhaften Wesen und lerne die Anteile, die ich an der Prinzessin verachte als meine eigenen wahrzunehmen. Während Heike weitersprach, rekelte ich mich im großen Garten des Berghofes, umgeben von blühenden Gladiolen und Rittersporn, vor mir die Berge, kein Auto weit und breit, absolute Stille. Schöner hätte es wirklich nicht sein können, wenn doch nur Heike verstummt wäre.

Früher versuchten Anke und ich Fräulein Klein telepathisch einen Migräneanfall anzuhexen, wenn sie uns auseinandergesetzt hatte, weil wir zu viel gelacht hatten. Einmal, behauptete Anke, habe sie es geschafft, dass Fräulein Klein den Unterricht wegen unerträglicher Kopfschmerzen beendete. Man müsse den gesamten Körper ganz fest zusammenkneifen, durch diese entstehende Kraft würde Fräulein Klein dann umfallen.

Leider habe ich Anke nach der Grundschulzeit nicht mehr wiedergesehen. Unsere Wege trennten sich, weil ich auf ein Gymnasium ging und sie auf die Realschule, eine damals unüberwindbare Kluft, die ich im großen Garten des Berghofes liegend zutiefst bedauerte. Ich war sicher, meine geliebte Anke hätte Heike zum Schweigen bringen können. Obwohl ich mir nichts mehr wünschte, fand ich die Ärztin paradoxerweise eigentlich sympathisch. Mir gefiel ihr roter Lippenstift und die sehr weißen Zähne. Außerdem beeindruckte es mich, wie elegant sie sich mit ihrer enormen Leibesfülle bewegen konnte. Jedenfalls wirkte sie lebensfroher als die Halbierte. Bestimmt konnte sie gut tanzen.

Als hätte Heike meine Gedanken erraten, redete sie immer weiter auf mich ein und versuchte mir zu erklären, dass ich mit dem Lesen aufhören und zum Eigentlichen finden müsse. Nach einigen Wochen im Berghof wusste ich, es hatte wie bei Impfgegnern keinen Sinn, Heike zu erklären, dass Lesen für mich das Eigentliche ist. Man darf alles mit mir machen, aber mir nicht die Bücher wegnehmen. Ich tat so, als würde mich die Sonne blinzeln und dann einschlafen, in der Hoffnung, es würde mir als Widerstandsdynamik angerechnet und damit ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung Rauswurf sein.

Von heute aus betrachtet kann ich nicht mehr nachvollziehen, warum ich nicht einfach meine Koffer gepackt habe und abgereist bin. Aber da es wegen der vielen Formulare, Anträge und Motivationsschreiben so aufwändig war, in den Berghof zu kommen, hatte ich vermutlich gedacht, die Abreise müsse genauso kompliziert sein.

Manchmal kommt es mir vor, als wäre Armut mein Beruf, den ich genauso rechtschaffen und gewissenhaft ausübe wie andere fleißige Werktätige auch. Dazu scheint zu gehören, Abreisedaten vorschriftsmäßig einzuhalten.

Nachdem Heike endlich gegangen war, suchte ich fieberhaft nach der Stelle, in der es in Marcel Beyers Putins Briefkasten um die Frakturschrift geht. Am Tag zuvor war ich heimlich mit Asti bei McDonald`s gewesen und auf dem Weg dorthin, über meine Schwierigkeiten mit der Frakturschrift gesprochen.

Ich verstehe überhaupt nicht, hatte ich zu Asti gesagt, als wir durch den schönen, stillen Wald gingen, warum sie meinen Vornamen gerade in Frakturschrift auf die Innenseite ihres Handgelenkes tätowieren lassen wolle. Frakturschrift, hatte ich zu Asti gesagt, erinnere mich an die Nazis. Wie immer in den Wochen im Berghof, wenn ich versuchte, über etwas zu reflektieren, hing Asti an meinen Lippen und bat mich darum, ihr alles genauer zu erklären.

In Berlin werfen mir manche meiner Freundinnen vor, ich sei nur so gebildet, weil ich zu viel Zeit zum Lesen hätte. Deshalb hatte ich irgendwann aufgehört über meine Lektüre-Eindrücke zu sprechen. Umso mehr genoss ich es, mich Asti gegenüber ausschweifend über Marcel Beyer zu äußern. Ich erzählte ihr, wie gern ich ihn lese, gerade seine inspirierenden Essays. Denn Marcel Beyer ist im Gegensatz zu mir in der Lage, Zeitphänomene wie die Wiederbelebung der Frakturschrift zu thematisieren. Und dann erzählte ich Asti noch von Christian Krachts Roman Eurotrash. Darin fragt die Mutter ihren Sohn, warum er nicht so richtig und wichtig schreibe wie zum Beispiel Marcel Beyer in Das blindgeweinte Jahrhundert. Plötzlich konnte ich gar nicht mehr aufhören, über Marcel Beyer und Christian Kracht zu sprechen.

Später im Bett fragte ich mich, ob der Berghof mich nicht in eine Grundschülerin, sondern in einen alten weißen Mann verwandelt hatte. Pädagogischer Eros, dachte ich, Hilfe.

Wenigstens hatte ich Asti nicht mit dem Eichendorffschen Wald als eine Art Hallraum der Seele malträtiert. Danach konnte ich lange nicht einschlafen.

Keiner meiner Freundinnen versteht, warum ich in Berlin so gern auf der erhöhten Freiluftterrasse vom McDonald`s am Bahnhof Zoo bin und mit der Hand in mein Notizbuch schreibe. Selbst im Winter sitze ich dort in Daunen. Von dort aus hat man einen großartigen Blick auf das hochgeschossige Waldorf Astoria Hotel, den immer krachend lauten Hardenbergplatz und die berühmte, eiserne Stadtbahn-Brücke, die über die Hardenbergstraße führt. Ich mag es, mir die jungen, levantinisch aussehenden Leute anzusehen, die ich seltsamerweise nie so geballt im Straßenbild meiner City West wahrnehme. Doch bei McDonald`s sitzen sie vor allem sonntags in großen Gruppen und essen wie ich nur Pommes. Ich mag es, sie in ihren verschiedenen Sprachen reden zu hören und denke dann, ich wäre in Beirut oder Istanbul. Manchmal fragt mich einer der jungen Frauen nach einem Stift. Dann scheint es mir, als wäre ich einen Moment lang Teil ihres Lebens geworden, zu dem ich sonst keinen Zugang habe.

In der Umgebung vom Berghof hätte ich allerdings niemals einen McDonald`s erwartet. Deshalb war ich überrascht, als Asti und ich uns in dem großen Wald verlaufen hatten, an einer befahrenden Bundesstraße herauskamen und das Fastfood-Restaurant entdeckten.

Da wir an diesem Tag noch nichts Verbotenes verbuchen konnten – in den Wald durften wir – sagte ich Asti, wir könnten ja nur Wasser trinken, damit sie nicht in Versuchung geführt würde. Bestimmt hatte sie mehr Probleme mit ihrer Bulimie als sie mir erzählte. Doch meine mütterliche Umsicht hielt nicht lange vor, denn ich als den McDonald`s betrat, fühlte ich mich zum ersten Mal, seitdem ich ihm Berghof war, wohl. Mir schien, als wäre eine große Last von mir gefallen. Egoistischerweise sagte ich zu Asti, komm, wir machen eine Ausnahme, heute das ganz große McMenü.

Erst nachdem ich zum dritten Mal in diesem McDonald`s gewesen war, wusste ich, warum ich mich dort zu Hause fühlte. Zum einen trug niemand Funktionskleidung – bis dahin hatte ich mit Ausnahme von Asti und der Prinzessin in ihren verrückten Uniformen, für die ich ihr insgeheim dankbar war – im Berghof nur Patienten in praktischen Hosen, noch praktischeren Oberteilen und Bauchtaschen gesehen. Und zum anderen saßen hier fast ausschließlich Menschen, die zweifelsfrei nicht aus der Gegend stammten. Als ich zur Toilette ging, hörte ich türkisch, schloss die Augen und dachte, ich säße auf der Freiluft-Terrasse vom McDonald`s am Bahnhof Zoo.

Von da an ging ich mit Asti täglich dorthin, wobei wir es meistens schafften, ihr Mineralwasser mit einem Schuss Cola zu versüßen, damit wir wenigstens ein bisschen etwas Verbotenes taten.

Als ich zum letzten Mal das McDonald`s in der Nähe des Berghofes betrat, fiel mir in der Schlange vor dem Tresen eine Person auf, die bei schönstem Sommerwetter einen bodenlangen schwarzen Regenmantel trug und ihr Gesicht unter einem großen, dunklen Hut versteckte. In Berlin hätte ich an eine Obdachlose gedacht, aber sie trug keine Taschen. Nach dem zweiten Hinsehen kam es mir vor, als würde ich die Person kennen. Dann drehte sie sich mehrmals hektisch um, und mir schien es, sie wäre die andere Hälfte der Halbierten. Ganz aufgeregt dachte ich, ich müsste es sofort Woody Allen mitteilen. Sicherlich käme ich irgendwie an seine Adresse. All die furchtbaren Wochen im Berghof hatten sich doch gelohnt, nichts war umsonst. Ohne Rücksicht auf die anderen wartenden Kunden in der Schlange drängelte ich mich nach vorn an den Tresen und fasste der Person im schwarzen Regenmantel auf die Schulter. Ich spürte, wie sie unter meiner Hand zusammenzuckte. Dann drehte sie sich um. Es war die Halbierte aus dem Berghof, die Essstruktur-Therapeutin mit drei -s-, auf dem Tablett Burger und Cola.

Wir einigten uns überraschend schnell. Die Halbierte würde mir mein Gepäck nachschicken lassen, die Bürokratie regeln und Asti mitteilen, ich sei untröstlich, wegen einer dringenden Angelegenheit habe ich mich nicht von ihr verabschieden können. Das angebotene Geld wies ich zurück. Ich fragte in die Runde, ob jemand nach Berlin fahre und mich mitnehmen könne. Ich fand eine levantinisch aussehende Frau ohne Funktionskleidung.