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Trauerfeier bei Ikea

Depeschen aus der Kapitale

von: SIRI 16

alle Fotos: (c) SIRI

Als ich noch verheiratet war, was mir heute wie aus einem anderen Leben erscheint, fuhr ich manchmal mit meiner Schwiegermutter zu Ikea. Ich musste mich dann um nichts kümmern, meine Schwiegermutter, die sich Margaux nannte, obwohl sie eigentlich Margot hieß, holte mich in ihrem offenen Sportwagen, einem roten Alfa Romeo Spider, ab. Wortlos reichte sie mir ein elegantes Kopftuch aus Seide – in diesen Westberliner Zeiten dachte man beim Kopftuch eher an ein mondänes Accessoire als an ein Zeichen religiöser Zugehörigkeit – und brauste los.

Margaux hatte das Autofahren in den Haarnadelkurven der Côte d’Azur gelernt. Da war sie gerade 18 geworden und fest davon überzeugt, Cary Grant zu lieben, der als ehemaliger Artist geschickt über die Dächer von Nizza klettern konnte, auch bekannt als Die Katze. Später heiratete Margaux einen zwielichtigen Gynäkologen, nur von weitem erinnerte er an Cary Grant. Leider übersah Margaux, dass der Gynäkologe Frauen verachtete, was die denkbar schlechtesten Voraussetzungen für die Ehe sind, vom Beruf ganz zu schweigen.

Aber sowohl von dem Gynäkologen als auch von Cary Grant hatte Margaux eine Schneidigkeit am Steuer übernommen, mit der sie mühelos rote Ampeln überfuhr, sich in jede Parklücke drängte und allen die Vorfahrt nahm. Kurzum, ich raste gern mit ihr durch die Mauerstadt, so auch zu Ikea.

Eigentlich, sagte Margaux immer, ginge sie nur wegen der wunderbaren Hotdogs dorthin. Für sie war alles wunderbar, zauberhaft oder hinreißend. Es dauerte Jahre, bis ich mir abgewöhnte, diese Wörter nicht mehr zu benutzen. Damals war es für mich vollkommen unmöglich, Margaux nicht zu imitieren. Ich benutzte auch lange nach der Scheidung ihr Parfum, Shalimar von Guerlain, ein pudriger Duft, von dem ich fälschlicherweise annahm, so würde die Côte d’Azur riechen.

Heute glaube ich, Margaux fuhr nur gern zu Ikea, weil sie dort so gut die Leute schikanieren und ihnen zeigen konnte, dass so etwas Albernes wie Warteschlangen ausschließlich für Krethi und Plethi erfunden worden sind.

Wenn Margaux auf den Ikea-Parkplatz bretterte, war ich berauscht von der Geschwindigkeit, dem Fahrtwind und einer leichten, aber angenehmen Übelkeit, die vom Vor- und Zurückschleudern in zu scharf genommenen Kurven entstanden war. Wozu, fragte ich mich, nehme ich eigentlich Drogen? Ich habe doch Margaux.

Lief ich mit ihr durch Ikea, hielt sie sich an keine Regel. Ohne groß darüber zu reden, nahm sie ganz selbstverständlich eine Abkürzung durch ein Treppenhaus, die nur den Ikea-Angestellten vorbehalten war. Erwischte uns jemand, küsste sie das Personal jeweils rechts und links auf die Wangen und tat so, als wären sie alte Freundinnen, die sich nur zufällig getroffen hatten: „Ma chère, ich bin furchtbar in Eile, à bientôt!“ sagte Margaux dann zur Ikea-Angestellten, die überrascht von der körperlichen Annäherung nichts zu erwidern wusste.

Da Margaux in Berlin aufgewachsen war, kannte sie ihre Landsleute genau und wusste, dass es am besten war, sie vor vollendete Tatsachen zu stellen, und zwar möglichst schnell, ohne ihnen viel Zeit für eine Antwort zu geben. Ich jedenfalls kann mich nicht daran erinnern, dass irgendjemand von Ikea Anstoß an uns genommen hätte. Während wir durch die Ausstellungsräume liefen und Margaux Teppiche oder Stühle als degoutant bezeichnete oder sich über streitende Paare beschwerte, erzählte sie mir von ihrer Zeit als Au-Pair-Mädchen in Cannes. Diesen Teil unseres Ikea-Besuches hatte ich besonders gern, ich liebte die Geschichten über ihre französische Gastmutter. Madame Leblanc nähte elegante Kosmetiktäschchen und bestickte sie mit den Logos der Hotels an der Côte d’Azur. Die meisten davon verkaufte sie im Carlton, Le Negresco oder im Hôtel du Cap-Eden-Roc. Auf meine Frage, ob Madame Leblanc davon leben konnte, antwortete Margaux nie. In ihrer Welt gab es immer noch einen Cary Grant dazu, der für den Rest aufkam. Die Kosmetiktäschchen waren aus butterweichem Leder und fühlten sich wie ein sehr angenehmer Handschuh an. Noch vor einigen Jahren sprach mich im Kino eine in Pelz gekleidete Frau an, als ich einen Lippenstift aus dem letzten Exemplar eines violetten Kosmetiktäschchens von Madame Leblanc holte. Ob ich die aus dem Negressco habe, fragte sie und ihren Augen leuchteten. Ganz verzückt wollte sie wissen, ob sie über das butterweiche Leder fassen dürfe? Natürlich, antwortete ich, und dann tranken wir ein Glas Sekt im Foyer vom Cinema Paris, das sich im Maison de France am Kurfürstendamm befindet.

Es gab aber auch Ikea-Besuche, bei denen Margaux tatsächlich etwas außer wunderbaren Hotdogs kaufen wollte. Natürlich stellte sie sich nie in der Warteschlange an, Margaux ging erhobenen Hauptes und mit kerzengeraden Rücken an allen vorbei. Beschwerte sich jemand aus der Warteschlange, sagte Margaux, „ach, entschuldigen Sie bitte vielmals, ich bin untröstlich. Die Schlange habe ich völlig übersehen. Aber wenn ich jetzt schon mal hier stehe, macht es Ihnen sicherlich nichts aus, n`est-ce pas?“ Und dann ließ sie den Mann einfach stehen, ging zum Tresen und fragte die Ikea-Angestellte: „Sagen Sie bitte, in Ihrem Katalog sah ich so einen hübschen blauen Sessel, wie groß ist der? Meinen Sie, ich kann darin gut lesen?“

Wenn dann die Ikea-Angestellte alle Höflichkeit zusammennahm und nachfragte, ob die Dame vielleicht den Sessel im Katalog zeigen könne, antwortete Margaux: „Also, Sie müssen sich doch nicht so viel merken. Sie werden ja wohl wissen, ob sie blaue Sessel führen?“

Selbstverständlich konnte sich die Ikea-Angestellte nicht erinnern, aber jemand aus der Warteschlange kam zum Tresen und half ungefragt weiter. Dann entstand für einen Moment der Hauch einer zauberhaften Anti-Ikea-Stimmung: Paare, die sich eben noch anschnauzten, weil der Mann die Maße für die Küchenzeile vergessen hatte, unterbrachen ihren Streit und sagten, es könne sich nur um den Ohrensessel Strandmon handeln. „Und wenn Sie so gern lesen“, rief die Frau vom Paar, nehmen Sie noch das Fußteil dazu.“

In solchen Momenten lief Margaux zu Hochform auf, Ikea schien mir der netteste Ort der Welt.

Eigentlich kann ich mich nicht mehr erinnern, ob Margaux je etwas anderes außer Servierten, Kerzen oder Hotdogs kaufte. Denn in ihrer Wohnung habe ich nie Möbel von Ikea gesehen.

Nachdem sie den zwielichtigen Gynäkologen verlassen hatte, heiratete sie noch mehrmals. Ihr letzter Ehemann, ein Architekt mit einer Vorliebe für Bauhaus, hatte Margaux nach der Trennung großzügigerweise seine Einrichtung dagelassen. Alles von Ikea hätte geschmacklos daneben ausgesehen. Aber vielleicht täusche ich mich auch. Es ist lange her, dass ich Margaux besuchte und zu Ikea ging ich auch nicht mehr. Ohne Margaux würden mich die streitenden Paare und all die praktischen Menschen nur fertig machen.

Einmal hatte ich nach meiner Scheidung ein Rendezvous mit einem Software Engineer, das auf seinem Segelboot auf dem Wannsee scheiterte, weil ich wie ein verstocktes Kind nicht verstand, ob man Leinen auf Klampen legt oder Leinen an Knoten kettet beziehungsweise was der Unterschied zwischen beiden war.

„Aber Schatz“, rief der Software Engineer enerviert, das habe ich Dir doch jetzt schon dreimal erklärt!“

Unser nächstes Rendezvous sollte bei Ikea stattfinden, weil der Software Engineer voreilig ein größeres Bett (für uns, Schatz!) kaufen wollte.

„Ikea ist mir zu heterosexuell“, sagte ich zu ihm und hatte damit mein Ziel erreicht. Wir sahen uns nicht mehr, und ich ging davon aus, nie wieder ohne Margaux zu Ikea zu müssen. Als sie dann kürzlich starb und ich nicht zu ihrer Beerdigung eingeladen war, dachte ich, ich könnte ihrer am besten bei Ikea gedenken. Dort hatten wir unsere schönsten Stunden, dort erzählte sie mir, wie überaus charmant Gary Grant gewesen sei. Von ihm hätte ich, die ich keinen Führerschein besitze, das Chauffieren spielend gelernt, am besten mit einem kleinen Martini vorab. N'est-ce pas fügte ich in Gedanken noch hinzu und fragte mich, ob ich ihr die letzte Ehre auch in einem anderen Ikea als dem in Spandau erweisen könnte. Denn zu Mauerzeiten gab es nur ein einziges in Westberlin, und das befand sich in Spandau.

Man konnte Margaux vieles vorwerfen, aber kleinlich ist sie nie gewesen. Bestimmt hätte sie es mir nicht übelgenommen, wenn ich in das von meiner Wohnung nächst liegende Ikea in den Bezirk Tempelhof führe. Wahrscheinlich war die Dependance in Spandau längst umgebaut. Ich hätte nichts wieder erkannt. Also nahm ich den Bus nach Tempelhof, in eine Gegend, die mir, als ich ausstieg, wie eine Kulisse für einen sozialkritischen, italienischen Film aus den sechziger Jahren schien. Hier vor dem Handwerkermarkt, wo gerade Leitern geliefert wurden, hätte auch Monica Vitti, die Margaux sehr ähnlich sah, herumlaufen können, verloren und einsam in dieser kalten industriellen Welt.

In Berlin passiert es mir manchmal, dass ich versehentlich durch eine Filmkulisse laufe, meistens zusammen mit Schauspielern in Nazi-Uniformen. Erst kürzlich geriet ich in den Aufbau einer Szene von der Serie Babylon Berlin, die in der Praxis meines Hausarztes gedreht wurde, weil seine Räume angeblich über den schönsten Stuck und das wertvollste Parkett in der ganzen Stadt verfügen. Deshalb kommt es mir in Berlin oft so vor, als würde nichts außer Illusion hergestellt, und alles wäre subventioniert. Plötzlich, als ich über den Parkplatz von Ikea zum Eingang lief, kam es mir vor, als wäre ich jahrelang in einem Winterschlaf gewesen, hätte alles verpasst und würde nicht mehr verstehen, wie die Welt funktioniert. Es muss an Corona gelegen haben, den Lockdowns und den langen Abenden in Netflix-Einzelhaft. Alles schien mir geschäftig und voller Pläne, nur ich wollte einer Frau gedenken, die in Cary Grant verliebt gewesen war. Gestriger konnte man nicht sein, wahrscheinlich kennt heutzutage niemand mehr den englisch-amerikanischen Schauspieler, der vor allem in Hitchcocks Filmen brillierte. Am liebsten hätte ich das junge streitende Paar gleich am Eingang von Ikea gefragt, ob sie je Über den Dächern von Nizza gesehen hätten? Es handelte sich um zwei Männer, von denen einer laut weinte, weil er wie ich unpraktisch war und genauso verstockt wie ich auf dem Segelboot mit den Knoten und Klampen, sagte, er möchte bitte sofort im Kinderparadies mit den Bällen abgegeben werden, bis Schatz die Einbauküche am besten schon fertig montiert und die Lasagne aus dem Ofen geholt habe.

Gern hätte ich eine Umfrage gestartet, ob immer Praktische mit Unpraktischen zusammenlebten, um sich gegenseitig das Leben zur Hölle machten oder ob sich die Praktischen gleich erkennen. Denn nur ich hatte kein Wissen über diese Dinge, weil ich stehen geblieben war an einer imaginierten Côte d’Azur der sechziger Jahre, in dem es nicht einmal den Anflug der Frage nach praktisch oder unpraktisch gegeben hatte. Wahrscheinlich wäre es Cary Grant nicht im Traum eingefallen, Margaux mit Segelknoten oder dem Aufbau einer Einbauküche zu traktieren. Das war ja alles schon da und musste nicht mehr besprochen werden. Geradezu wütend lief ich über eine Rolltreppe durch zahlreiche Showrooms und suchte nach einem Platz, an dem ich Margaux gedenken konnte. Ich fand einen, wie sie gesagt hätte, hinreißenden kleinen, weißen Schreibtisch, an dem man außer Tagebuch oder Liebesbriefe nichts anderes hätte schreiben können. Ein Laptop passte nicht darauf.

Obwohl mich niemand beobachtete, weil die Praktischen für so etwas Sinnloses, wie sich mit anderen zu beschäftigen, keine Zeit verschwenden, versuchte ich möglichst unauffällig zwei kleine Sektgläser unter dem Schreibtisch zu verstecken und den Champagner-Piccolo einzuschenken. In meinem Wahn, was die Einteilung in praktische und unpraktische Menschen betrifft, hatte ich die Kinder vergessen, die es ja auch bei Ikea gab, falls sie nicht im Kinderparadies mit den Bällen abgegeben wurden. Ein Junge stellte sich vor den hinreißenden, kleinen weißen Schreibtisch und sagte ansatzlos: „Papa hat alles kaputt gemacht.“

Vielleicht war er sechs oder sieben Jahre alt, er hatte rotblonde, sehr kurzgeschnittene Haare und viele Sommersprossen. Ich drehte mich um, konnte aber kein passendes Elternteil finden.

„Kennst Du Cary Grant? Er kann auf Dächer klettern, jonglieren und zaubern“, sagte ich.

Der Junge schüttelte den Kopf, seine düstere Miene hellte sich etwas auf.

„Pass auf“, sagte ich zu ihm und gab ihm ein leeres Sektglas, während ich meines ein wenig füllte. „Wir stoßen jetzt zusammen an, und zwar darauf, dass Cary Grant Eure Wohnung wieder heil macht. Dafür musst Du nur kurz die Augen schließen und an eine schöne, blonde Frau namens Margaux denken, dann geht der Wunsch in Erfüllung.“

Dann stießen wir laut klingend an.

„Margaux“, flüsterte der Junge mit geschlossenen Augen, und ich dachte daran, wie sehr ihr diese kleine Trauerfeier gefallen hätte. Repose en paix!