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Der Christopher Street Day 2022 - von der Berliner Staatsbibliothek aus betrachtet

Depeschen aus der Kapitale

von: SIRI 16

(c) SIRI

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Als ich an einem Samstag im Juli wie jeden Samstag in die Staatsbibliothek fuhr, wusste ich, dass die Parade vom Christopher Street Day an der Bibliothek vorbeiführte. Ich hatte mich extra vorher im Radio darüber informiert. Um 12 Uhr sollte es losgehen, am Leipziger Platz, der nicht weit entfernt von der, wie wir in Berlin sagen, Stabi entfernt liegt. Um 18 Uhr, nahm ich an, könnte ich problemlos wieder nachhause radeln. Dann wäre alles wieder wie vorher, die Müllabfuhr hätte sogar schon die Flaschen, die Zigarettenkippen und das Konfetti beseitigt. Doch als ich gegen 14 Uhr durch die haushohen Fenster der Stabi die ersten Wagen der Parade sah und der tiefe Bass selbst auf der vierten Ebene der Bibliothek nicht zu überhören war, hielt ich es nicht mehr aus an meinem Einzeltisch mit Scheuklappen. Der Tisch ist an drei Seiten mit einem halben Meter hohen Sichtschutz versehen, was mir nur recht ist, weil ich dann nicht mitbekomme, ob mein Vordermann gerade auf Amazon etwas kauft, bei Instagram unterwegs ist oder eine juristische Facharbeit schreibt. Corona-bedingt beruhigt es mich auch, dass ich in einem Bereich mit Maskenpflicht sitze und die nächste Person mindestens zwei Meter von mir entfernt arbeitet. Ich hatte gedacht, all diese Schutzmaßnahmen würden mich dabei unterstützen, den Christopher Street Day zu ignorieren. Doch ich hatte mich falsch eingeschätzt. Der tiefe Bass, der durch meinen Körper dröhnte, war meine Madeleine, jener berühmte Zwieback, den Proust in seinen Lindenblütentee taucht und sich wegen des aufsteigenden Duftes an seine Kindheit erinnert, an Maman, an Monsieur Swan und dessen unglückliche Liebe zu Odette. Ich saß, um es vornehm auszudrücken, contre cœur in der Stabi.

Ich selbst bin vor etwa 25 Jahren zum letzten Mal auf dem Christopher Street Day mitgelaufen. In diesen Jahren führte die Parade immer über den Kurfürstendamm, und immer wollten wir ganz am Anfang mit dabei sein, so wie wir auch immer bis zum Ende durchhielten. Das war eine Frage der Ehre. Und ich, was mir heute ein Rätsel ist, auf hohen Schuhen und im Minirock. Kostümiert waren wir nie, aber stark geschminkt, die langen Haare kunstvoll aufgetürmt. So standen wir um 12 Uhr am Kurfürstendamm Ecke Fasanenstraße vor dem Hotel Kempinski. Einer von uns hatte gletscherkalten Sekt mitgebracht, den wir von Mund zu Mund weiterreichten. War die Flasche leer, kauften wir eine neue an den provisorisch eingerichteten Getränkeständen. Einer von uns, der nie aufhörte, die Welt zu ordnen, wusste von bestimmt 30 Wagen, die auf der Parade mitführen.

30 Wagen, wiederholten wir, das kann nicht sein. So viele? Wer soll das denn sein? Denn bis dahin kannten wir die Wagen von den verschiedenen Parteien, die von unseren Lieblingsbars und einigen Clubs. Das Berghain gab es noch nicht, und Klaus Wowereit, der ehemaligen Bürgermeister von Berlin, hatte sich auch noch nicht geoutet.

Wenn sich die Parade in Gang setzte, warteten wir auf den Wagen mit der besten Anlage. Eigentlich warteten wir hauptsächlich auf das sadistische Spiel des DJ, der uns oben auf seinem mit Glitter und Glamour geschmückten Wagen den Bass entzog. Manchmal dauerte es mehrere Minuten, bis er wieder kam. Niemand hat schöner darüber geschrieben als Rainald Goetz in Rave, über die Freude, wenn man endlich wieder den Bass hörte.

Kannten wir jemand auf den Wagen, wurde einer von uns per Räuberleiter hochgezogen. Wenn einer von uns dann oben stand und herunter grölte, grölten wir zurück und lachten. Wir waren einfach zu glücklich unter all den Lesben, Schwulen und Transsexuellen, die damals die besten Kostüme trugen. Manche von den 60iger Jahren inspiriert: goldene Hotpants, violette Stiefel, viele graphische Muster oder in silbernen, rückenfreien Kleidern aus alten Hollywood-Filmen. Die Haare wasserstoffblond gefärbt und in Wellen gelegt, als Hommage an die früh verstorbene Candy Darling aus der Factory von Andy Warhol. Lou Reed hat ihr in Take awalk on the wild side eine Strophe gewidmet.

Nur mit unserem weltordnenden Freund hatten wir oft Ärger, weil er in all den Jahren, in denen wir auf dem Christopher Street Day mitliefen, entweder auf den Wagen der FDP eine Stinkbombe schmiss oder gleich versuchte ihn gänzlich umzuwerfen. Dann musste einer von uns der Polizei das Missverständnis erklären: Unser Freund, Herr Wachtmeister, kommt nicht von hier, ein Ausländer, er dachte, es handele sich um die FDJ, die Jugendorganisation aus der untergegangenen DDR.

Wer`s glaubt? sagte der Polizist und sah am Ende aber doch von einer Anzeige ab, weil einer von uns nicht aufhörte, ihn zum Tanzen zu bewegen. Das fand er wohl schlimmer als den Parteiwagen der FDP umzuwerfen.

So war es gewesen und natürlich noch vieles mehr, von dem ich eigentlich nichts mehr wissen wollte. In den vielen Jahren davor hatte ich es schließlich auch geschafft, den Christopher Street zu umschiffen. Mehrere Male in der Bibliothek der Universität der Künste, kurz UDK-Bibliothek genannt. Dort führte nie eine Parade entlang. Bis zum Ausbruch der Pandemie im Februar 2020 bin ich immer in diese Bibliothek gegangen. Danach konnte ich wegen mehrerer Lockdowns in keine mehr gehen und trauerte um die UDK-Bibliothek tatsächlich so dramatisch wie um eine unglückliche Liebe. Aber als man dann endlich wieder in öffentliche Räume gehen durfte, wollte ich plötzlich nicht mehr in die UDK-Bibliothek gehen, was natürlich eine komplett irrationale Entscheidung war. Schließlich hatte mich die UDK-Bibliothek nicht wie eine Geliebte verlassen. Es war lächerlich, ich weiß. Aber seit dem Sommer 2021 ging ich in die Stabi, deren Einrichtung mir weniger gefällt als die der UDK-Bibliothek. Alles ist mühsamer dort, das Personal unfreundlicher, die Stühle unbequemer. Die Cafeteria sieht aus, als wäre sie seit der Eröffnung im Jahre 1973 nicht renoviert worden. Es gibt sogar noch Raucher- und Nichtraucher-Schilder. Sitzt man dort, denkt man, die Mauer wäre nie gefallen, Harald Juhnke immer noch am Leben. Die Speisekarte bestätigt diesen Eindruck, hier gibt es Curry- und Bockwurst, Kartoffelsalat mit Mayonnaise, feiste Sachen, die doch heute keiner mehr essen will.

Im Februar dieses Jahres hatte ich, auch an einem Samstag, gleich morgens als erste Aktion den Schlüssel von meinem Vorhängeschloss in dem Schließfach miteingeschlossen, zusammen mit meinem Hausschlüssel, dem Mantel, dem Proviant und meinem Portemonnaie. Ich erinnere mich noch an diesen Moment großen Schreckens, die Angst nicht in meine Wohnung zu können, das Gefühl, dem Alltag einfach nicht mehr gewachsen zu sein.

In dieser Zeit musste man sich Corona-bedingt, wenn man in die Stabi wollte, vorher aufwändig online anmelden, man kam nicht ohne Termin in die Bibliothek. Dafür gab es bestimmte Zeiten, in denen ich vor dem Laptop hockte und darum bangte, einen Termin zu ergattern. Hatte man dann einen, musste man dem Personal am Eingang der Bibliothek die Buchbestätigung via E-Mail vorzeigen, jeweils für vor- und nachmittags und den Bibliotheksausweis, den digitalen Impfpass auch jeden Tag aufs Neue. Es war wirklich schwierig, es richtig zu machen, obwohl ich mich täglich bemühte, vergaß ich entweder den Ausweis, mein Handy oder das Wasser. Den Schlüssel für das Vorhängeschloss hatte ich allerdings noch nie im Schließfach gelassen.

Samstags, sagte mir die Frau an der Information im Foyer der Stabi, sei kein Hausmeister im Haus, der das Vorhängeschloss aufbrechen könne, sie müsse den Notdienst anrufen, wann der komme, sei ungewiss. Außerdem müsse ich Formulare ausfüllen, sie würde die dafür zuständige Kollegin anrufen. Mehrere Stunden später kam eine so genannte Fachkraft für Hausrecht, die mich nötigte, den Inhalt meines Schließfaches schriftlich genau zu beschreiben und Gucci-Handtasche nicht als Oberbegriff gelten ließ. Ich war kurz davor, der Fachkraft für Hausrecht vor ihr Schienbein zu treten, biss mir stattdessen auf die Zunge und wartete mit ihr zusammen auf den Notdienst. Der sah wirklich großartig aus und passte weder in die heiligen, wissenschaftlichen Hallen der Stabi noch zur Fachkraft für Hausrecht im Faltenrock und Wanderschuhen. Schon als der Notdienst durch die Drehtür der Stabi ging, fiel sofort auf, dass er das komplette Gegenteil des typischen Stabi-Besuchers war. Denn trotz des kalten Wetters trug er nur ein Muskelshirt, beide Arme tätowiert, Pferdeschwanz und auf seinen Schultern war etwas, das wie ein Mini-Space-Shuttle aussah. Laut sprechend, obwohl es als ungeschriebenes Gesetz gilt, im Foyer der Stabi zu flüstern, fragte er nach der Nummer meines Schließfaches, schob die Fachkraft für Hausrecht und mich beiseite. Mädels, dit würd` schon! Eine Minute später hatte ich mithilfe des Mini-Space-Shuttles meine Sachen wieder, ohne etwas dafür bezahlen zu müssen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich bei der Fachkraft für Hausrecht zu bedanken. Der Notdienst ging pfeifend davon, den Mini-Space-Shuttle lässig auf der Schulter.

Warum nur, fragte ich mich, habe ich kein Handwerk erlernt?

Seit diesem Samstag im Februar bin ich der Fachkraft für Hausrecht einige Male begegnet, auf den breiten Treppen der Stabi, im Foyer oder bei den Fahrradständern. Immer grüßten wir uns freundlich, sprachen aber nie länger miteinander. An dem Samstag im Juli, als der Christopher Street Day an der Bibliothek vorbeiführte und ich es nicht schaffte, die Parade zu ignorieren, trat ich auf den Rasenplatz neben dem Eingang der Bibliothek. Normalerweise sitzen dort nur wenige Leute, die wie ich ihr Proviant auspacken. Serviette ausbreiten, Thermoskanne drauf, Brote essen, meistens schweigend. Jetzt war der Rasenplatz übersät mit Besuchern vom Christopher Street Day, betrunken und laut mitsingend bewegten sie sich zum Rhythmus der Bässe, der von den Wagen kam. Manche urinierten auf das seltsame Kunstwerk, bei dem man nie weiß, ob es sich um eine Anspielung auf einen Galgen oder eine noch nicht fertiggestellte Skulptur handelt.

80 Trucks und mindestens 40 Fußgruppen, sagte die Fachkraft für Hausrecht ansatzlos zu mir.

Ich zuckte zusammen, weil ich sie zuerst gar nicht erkannte hatte. Mit knallrotem Lippenstift, falschen Wimpern und Paillettenkleid wippte sie vor sich hin. Als ich noch zum Christopher Street Day ging, war nie die Rede von Trucks oder Fußgruppen. Deshalb fragte ich danach.

Also, Wagen sagt heute keiner mehr, und Fußgruppen sind eben die ohne Trucks, ist doch ganz einfach!

Da ich überhaupt nicht wusste, was ich der Fachkraft für Hausrecht entgegnen sollte, fragte ich sie, ob man die Eingangstüren der Stabi nicht abschließen müsste, damit niemand die Toilette stürmte.

Ach, seien Sie doch nicht so streng, das ist doch nicht weiter schlimm, so ein bisschen Unordnung! Kommen Sie, wir kaufen Sekt, sagte die Fachkraft für Hausrecht und nahm meinen Arm, Dann liefen wir ein Stück auf dem Christopher Street Day mit, so dass ich nicht contre cœur an dem Schreibtisch mit Scheuklappen sitzen musste. - Danke, liebe Fachkraft für Hausrecht.