Diese Webseite nutzt Cookies

Diese Webseite nutzt Cookies zur Verbesserung des Erlebnisses unserer Besucher. Indem Sie weiterhin auf dieser Webseite navigieren, erklären Sie sich mit unserer Verwendung von Cookies einverstanden.

Einige dieser Cookies sind technisch zwingend notwendig, um gewissen Funktionen der Webseite zu gewährleisten.

Darüber hinaus verwenden wir einige Cookies, die dazu dienen, Informationen über das Benutzerverhalten auf dieser Webseite zu gewinnen und unsere Webseite auf Basis dieser Informationen stetig zu verbessern.

Suche:

462 |

You Begin / Du fängst an

Ulrike Steierwald liest Margaret Atwood / Monika Rinck „10 Minuten Lyrik“, Leuphana Universität Lüneburg, 12. Januar 2022

von: Ulrike Steierwald

Margret Atwood / Eden Mills Writers Festival 2006 (gemeinfrei)

Monika Rinck / Literarischer März 2015 (gemeinfrei)

An der Leuphana Universität Lüneburg wurde und wird die Reihe „10 Minuten Lyrik“ – der Pandemie zum Trotz – fortgesetzt. „Der Dichtung eine Gasse“ – an das Motto der Frankfurter Anthologie anknüpfend, sprechen Literaturwissenschaftler/innen in jeder Woche über ein Gedicht ihrer Wahl. Sie nehmen die klassischen oder modernen, schwierigen oder scheinbar einfachen Verse in den Blick, fragen nach ihrer Bedeutung, schlagen eine Lektüre vor und eröffnen auf diese Weise einen Zugang – eine Gasse – zum Gedicht und der in ihm erzeugten und reflektierten Welt.

Im Winter waren die „Zehn Minuten Lyrik“ sogar in der allseits ersehnten Präsenz auf dem Campus möglich. Ab Januar wurde diese produktive Zäsur einmal mehr digital stark gemacht.

Zum Jahresauftakt sprach Ulrike Steierwald zum Gedicht des Anfangens "You Begin / Du fängst an" von Margaret Atwood in der Übersetzung von Monika Rinck

– auch zu hören über: youtube


Herzlich Willkommen zu den ersten zehn Minuten Lyrik in diesem Jahr. Ich habe Ihnen heute dazu passend ein Gedicht des Anfangens mitgebracht und beginne also auch gleich –

 

Du fängst an

So fängst du an:

Dies ist deine Hand,

dies ist dein Auge,

das ist ein Fisch, blau und flach

auf dem Papier, fast

in der Form eines Auges.

Dies ist dein Mund, dies ist ein O

oder ein Mond, wie auch immer

du willst. Dies ist Gelb.

 

Draußen vor dem Fenster

ist der Regen, grün,

denn es ist Sommer, und jenseits davon

die Bäume und dann die Welt,

die rund ist und nur die Farben

dieser neun Wachsmaler hat.

 

Dies ist die Welt, die voller ist

und schwerer zu begreifen, als ich sagte.

Es ist recht, dass du sie so beschmierst

mit dem Rot und dann

dem Orange: die Welt brennt.

 

Wenn du diese Worte einmal gelernt hast,

wirst du begreifen, dass es mehr Worte gibt,

als du jemals lernen kannst.

Das Wort Hand schwebt über deiner Hand,

wie ein Wölkchen über einem See.

Das Wort Hand verankert

deine Hand mit diesem Tisch,

deine Hand ist ein warmer Stein,

ich halte sie zwischen zwei Worten.

Dies ist deine Hand, dies sind meine Hände, dies ist die Welt,

die rund ist, doch nicht flach und mehr Farben hat,

als wir sehen können.

 

Sie fängt an, sie hat ein Ende,

hierauf wirst du

zurückkommen, dies ist deine Hand.

 

Wir haben es in diesem Gedicht von Margret Atwood mit zahlreichen Anfängen zu tun. Auf den ersten Blick hat Monika Rinck hier ganz „wörtlich“ übersetzt, wobei man auf den zweiten erkennen kann, welche Kunst in der beim Wort genommenen Sprache steckt. Gleich zu Beginn des Gedichts entscheidet sie sich gleich zwischen den im Deutschen gegebenen Varianten – „Beginn oder Anfang?“ – für das Anfangen, das den aktiven Gestus unterstreicht, aber auch den Ausgangspunkt eines Wahrnehmungsprozesses in der Schwebe hält. Der Blick fällt zunächst, anfänglich, auf die Hand mit dem die Körperlichkeit eines betrachteten „Du“ aufgerufen wird, die unschwer als Körperlichkeit eines Kindes erscheint – eines Kindes, das hier zeichnend und malend selbst zu einem Sprachbild wird. Erst dann kommt das Auge in den Blick der Betrachtung. Dies ist konsequent, denn das Sehen geht dem Begreifen nur scheinbar voraus. Anfangen, Fangen, Begreifen markieren ein Wort, das in den meisten Sprachen zu den ältesten, also historisch anfänglichen Begriffen zählt: Das Wort Hand.

Man braucht keine anthropologischen oder evolutionsbiologischen Erklärungsmodelle zu bemühen, um in der Höhlenmalerei der Jungsteinzeit, vor etwa 40.000 Jahren, das haptische und zugleich auf etwas zeigen könnende Potential der menschlichen Hand zu erkennen. Es zeigt sich in seinen Realisierungen des Handelns, des Handels oder auch der Handgreiflichkeit und Manipulation (lat. Manus/Hand). Die Abdrücke der Silhouetten dieser, auf einen Felsstein der Höhle gedrückten Hände – die übrigens überwiegend als weiblich identifiziert wurden – entstanden durch aus dem Mund gepustete Farbsubstanzen. Die nach Heidegger spezifisch menschliche „Zuhandenheit“, das auf der Hand liegende und zugleich verkörperte Weltverhältnis, zeigt sich historisch in der etwa zeitgleichen Ausformulierung der menschlichen Sprache und der anatomischen Ausprägung einer nicht nur greifenden, sondern auch handeln und gestalten könnenden Hand.

In der ersten Strophe des Gedichts gehen die Erkundungen des Kindes einher mit einer ungestörten körperlich-haptischen Verbindung zwischen den Farben auf dem Papier, den wahrgenommenen Formen der Wirklichkeit und der wahrnehmenden Augenform. Das kreisförmige O, der Vollmond und der offene Mund weisen noch eine evidente Ähnlichkeit zwischen den Dingen und Zeichen auf, deren Arbitrarität niemanden stört. Aber im Blick nach Draußen, „vor dem Fenster“, bricht bereits die Trennung auf, die zwischen Sehen und Begreifen liegt. Der Blick aus dem Fenster entspricht der bewussten, reflektierten Perspektivierung der Welt und ihren begrenzten, begrenzenden Darstellungs- und Ausdrucksformen, die durch repräsentative Farb- und Formgebung entstehen können. Diese notwendige Begrenzung kann dem Potential, der Fülle und Schwere, der Schönheit und dem Schrecken der Welt nicht gerecht werden kann. „You are right“ – Recht hat die Anarchie des Kindes, die Walter Benjamin als Souveränität der Weltaneignung im unentschiedenen, spielenden, auch destruktiven kindlichen Erkunden des Innen wie Außen, des Belebten wie Unbelebten bezeichnet. So gilt es, die Realität zu erfahren. Denn Fakt ist: „die Welt brennt“. Die Fülle der Dinge, die zu begreifende Welt, wird nicht durch ein additives Ansammeln von Worten oder Konventionen erlernt, sondern in der neugierigen Erkundung des Möglichen, also des per se unbegrenzten Sprachraums mit Mund, Auge und Hand. Es gibt mehr Worte als wir jemals lernen können, es gibt mehr Farben als wir jemals sehen können.

Als ich ein Kind oder sagen wir wesentlich jünger war, also in meinen Anfängen …, schwärmte ich eher für Jahresend-Gedichte und Gesten des Verfalls, wie z.B. für Rilkes Tausende von Lebensberatungs- und Tröstungsbüchlein zierende „Blätter (,die) fallen, fallen wie von weit, /als welkten in den Himmeln ferne Gärten“**. Rilkes Gedicht ist allerdings – wie ich selbst – in die Jahre gekommen. Im 21. Jahrhundert ist das Bewusstsein für die Kurzlebigkeit der Episode „Mensch“ in Natur- und Weltgeschichte noch stärker ausgeprägt als vor hundert Jahren; transzendentale Projektionen sind noch unglaubwürdiger geworden und sogar das Bild des Gartens, so fern er auch sein mag, hat seine paradiesische Unschuld verloren. Hier die letzten Strophen aus „Herbst“:

 

„Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.

Und sieh dir andere an: es ist in allen.

 

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen

unendlich sanft in seinen Händen hält.“


In Atwoods Gedicht kann die Geste des „deine Hand ist ein warmer Stein, / ich halte sie zwischen zwei Worten“ jenseits aller religiösen oder spirituellen Aufladungen als ganz konkret und unwiderlegbar gelesen werden. Und dieser Halt ist ein sehr handfester, physischer, warmer Trost, der auch im Begreifen der in der Sprache sich zeigenden Welt zu finden ist.

Die Welt hat ein Ende – „hierauf wirst du zurückkommen“. Das Bewusstsein der Endlichkeit, nicht nur der eigenen Existenz, ist die klare, nüchterne Bilanz der erwachsenen, scheinbar ‚ausgewachsenen‘, Perspektivierung. Und vielleicht liegt es daran, dass uns im Alter eher das „So fängst du an“ interessiert. Denn hier liegt der Trost in der sprachlich aufgerufenen Präsenz des „Dies ist deine Hand (…) dies ist dein Auge (…) dies ist dein Mund “, und das heißt in der liebenden Betrachtung des anderen.

Michael Krüger hat im Vorwort zu dem von ihm (zu Recht) mit Stolz herausgegebenen Gedichtband darauf hingewiesen, dass 2020 „Die Füchsin“ die erste ins Deutsche übersetzte Lyrikanthologie der international bekannten und millionenfach in ihren Prosawerken gelesenen, aber eben als Lyrikerin in Deutschland kaum beachteten Autorin ist – und dann übersetzt durch zehn deutschsprachige Lyrikerinnen und Lyriker, deren Übersetzungen nicht analogisieren, sondern in der Vielsprachigkeit das gemeinsame Potential der Wahrnehmungsräume erkunden können. Der mittlerweile 78jährige Verleger und Autor Michael Krüger kommt hier nicht zufällig auf eines seiner Lieblingsgedichte im Band zu sprechen, dem „Shapechangers in Winter / Gestaltwandler im Winter“*, das auch von einem liebenden Blick handelt – von einem alten Paar, das seine Körper und ihre Erfahrungen schon dutzende Male „Hand in Hand“ erneuert und verwandelt hat. Daher möchte ich mit der letzten Strophe dieses, zum „Du fängst an“ komplementären Liebesgedicht die 10 Minuten an ihr Ende führen:

„(…) Doch die Kunst besteht darin, auszuharren
in allen Erscheinungsformen; und wir tun es,
und ja, ich weiß, das bist du;
und darauf wird es hinauslaufen, früher
oder später wenn es noch dunkler ist
als jetzt schon, wenn der Schnee kälter ist,
wenn es am dunkelsten und am kältesten ist
und Kerzen uns nichts mehr nützen
und die Sicht gleich null ist: Ja.
Du bist es noch immer. Du bist es noch immer.


* Übersetzung: Jan Wagner

** Aus: Gedichte, die glücklich machen [sic!], hrsg. von Clara Paul. Berlin: Insel 2014, S. 172.

*** Margaret Atwood: Die Füchsin. Gedichte 1965-1995, hrsg. von Michael Krüger. München/Berlin: Berlin Verlag 2020