Diese Webseite nutzt Cookies

Diese Webseite nutzt Cookies zur Verbesserung des Erlebnisses unserer Besucher. Indem Sie weiterhin auf dieser Webseite navigieren, erklären Sie sich mit unserer Verwendung von Cookies einverstanden.

Einige dieser Cookies sind technisch zwingend notwendig, um gewissen Funktionen der Webseite zu gewährleisten.

Darüber hinaus verwenden wir einige Cookies, die dazu dienen, Informationen über das Benutzerverhalten auf dieser Webseite zu gewinnen und unsere Webseite auf Basis dieser Informationen stetig zu verbessern.

Suche:

457 |

Der Philosophin Karen Gloy zum Geburtstag

von Jitka PERINA, Endre KISS und Uwe DÖRWALD

von: Redaktion


Zum 80. Geburtstag von Frau Karen Gloy

Jitka Perina, Zug, Dezember 2021

Eine Laudatio für Karen Gloy zu verfassen, erweist sich als alles andere denn einfach. Nicht, dass es zu wenig zu schreiben gäbe – ganz im Gegenteil. An ihrem 80. Geburtstag blickt sie auf ein reiches Leben als Philosophin, Forscherin, Dozentin, Autorin, Mentorin und Gesprächspartnerin zurück.

Die Schreibende hat Karen Gloy im Jahr 2005 an der Universität Luzern kennengelernt und im Rahmen des MAS Philosophie und Management ihre Vorlesung über Zeit genossen. Sie wagt es mit allem gebotenen Respekt, eine ganz persönliche Laudatio zu verfassen.

Wir sind eine Studentengruppe von erfahrenen Managern gewesen, haben die philosophischen Themen mit viel Begeisterung aufgesogen und die Verbindung zu unserem Management-Alltag gesucht und lebhaft diskutiert. Die Dozenten forderten wir dabei mit unseren Fragen oft heraus. Dies auf eine andere Art, als sie es von ihren jungen Studenten gewohnt waren. Wir kamen aus der Praxis und wollten alles ganz pragmatisch, schnell und kompakt präsentiert erhalten und unmittelbar auf die Praxistauglichkeit prüfen. Frau Gloy hörte uns immer aufmerksam zu, interessierte sich für unsere praktischen, manchmal von der Philosophie etwas weit entfernten Vorstellungen und Sorgen und schaffte es stets, eine Verbindung zwischen den beiden Welten anzubieten und die Differenzen kritisch auszuloten. Sie verstand es, uns in das Thema mitzunehmen, in einem angemessenen Tempo in die Materie einzutauchen und unser Denken und Handeln zu reflektieren.

Während eines zweitägigen Seminars zum Thema Zeit, ausserhalb der Universität in einem Hotel am Vierwaldstättersee, musste ich dringend beruflich nach Basel reisen. In meinen Augen konnte ich beides problemlos nebeneinander erledigen, die Arbeit und die Philosophie. Um möglichst wenig von den interessanten Themen zu verpassen, habe ich mich am Ende des Vormittags entschuldigt und im gleichen Atemzug angekündigt, dass ich spätestens zum Nachtessen wieder dabei sein würde. Frau Gloy sah mich mit fragenden Augen an und bemerkte: Sie Manager sind immer unterwegs und haben für nichts wirklich Zeit. Wie Recht hatte sie und wie sehr ich mich von ihrer Anmerkung getroffen fühlte. So eine Managerin, welche sich ebenfalls Philosophin nennen möchte und keine Zeit hat, sich mit dem Thema Zeit zu befassen, wollte ich nicht sein. Es blieb während der ganzen Studienzeit das einzige Mal, dass ich alles und nichts gleichzeitig zu erledigen versuchte.

Von Karen Gloy habe ich sehr viel gelernt. Sie hat mir während des Studiums, aber auch später als geschätzte Gesprächspartnerin und Referentin zu den Anlässen unseres Alumni Philozirkels Themen und Gedanken nahegebracht, welche mich auch weit über das Studium hinaus beschäftigt haben und weiter beschäftigen.

Das Thema Zeit beeindruckte mich und beeinflusste mein Denken und meine Arbeit anhaltend. Die für eine Führungskraft massgebende Unterscheidung zwischen der zyklischen und der linearen Zeit hat mir ermöglicht, den persönlichen und beruflichen Alltag bewusst zu strukturieren. Dies hat sich nicht nur für mich, sondern auch für meine Mitarbeiter und diejenigen Menschen, welche ich berate, als hilfreich erwiesen.

Während wir die lineare Zeit mit der Uhr in unserer Hand bestimmen, reihen wir beliebige Ereignisse aneinander. Damit wird die Zeit zu einem abstrakten Schema, in welches wir konkrete Inhalte integrieren. Sie läuft, wir sehen uns einem ständigen Mangel an ihr ausgeliefert und rennen ihr buchstäblich nach. Wir versuchen, die Zeit zu sparen und Prioritäten zu setzen, das Gelingen ist erfahrungsgemäss nicht in Sicht. Interessant ist, diese Vorgänge zu beobachten und zu ergründen, wie wir sie empfinden: Wir erfahren uns selbst als uns im Kreise drehend, die bildliche Steigerung dessen ist das Hamsterrad. Nichts hat einen Anfang, nichts hat ein Ende. Keine Pause in Sicht. Dabei haben wir uns der linearen Zeit bedient. Wir sehnen uns nach einer Entspannung, wünschen den Schalter zu finden, der uns in die Aus-Zeit versetzt. Eine wahrhaft unendliche Qual, wobei gerade die Unendlichkeit eine prägende Eigenschaft der linearen Zeit darstellt.

Der bewusste Gebrauch der zyklischen Zeit ermöglicht es uns, eine Rhythmisierung des Lebens zu erfahren. Wir bewegen uns in einem Zyklus, welcher einen Beginn und ein Ende hat, bevor er in den nächsten Zyklus übergeht. Vertrauensvolle, sich wiederholende Situationen im Laufe des Jahres mit den sie begleitenden Ritualen helfen uns, uns in einer strukturierten Zeit zu empfinden. Die Zeiten des Beginns, der Aktivität, des Feierns und des Ruhens wechseln sich ab. Die Bedeutung der rhythmischen Gestaltung des Alltags habe ich erst später, nach der Lektüre von Karen Gloys Buch «Zeit», bewusst entdeckt. Die Wiederholung des Gleichen gibt uns Orientierung und schafft Vertrauen. Diese Erkenntnisse und deren konsequente Umsetzung sind für mich im beruflichen und persönlichen Bereich sehr gewinnbringend.

Frau Gloy ist mir Vorbild mit ihrem eisernen Willen und ihrer Disziplin, mit ihrem klar strukturierten Arbeitsalltag, den Forschungsreisen und der unermüdlichen Schreibtätigkeit. Der immer mit Frische und Interesse erfüllte Blick und die Rationalität und Reife zeugen von einer Persönlichkeit, welche noch vieles vorhat.

Am Geburtstag von Frau Karen Gloy, dem 21. Dezember, ist die Wintersonnenwende. Diese steht symbolisch für den Neubeginn im zyklischen Verständnis der Jahreszeit. Ich gratuliere Frau Gloy herzlich zu Ihrem 80. Geburtstag und wünsche Ihr nur das Beste.


 

Über Karl Jaspers – ganzheitlich

An Frau Professor Karen Gloy, mit Anerkennung, mit aufrichtigem und bleibendem Dank für produktive Zusammenarbeit, liebenswürdige Freundschaft, tiefen Gedankenaustausch und konstruktive Hilfe in den Jahren des „Ende der Geschichte”,

Endre Kiss, Budapest - vor Weihnachten 2021

Die erste typologische Eigenart von Karl Jaspers’ philosophischem Denken ist jene Reihe der konsequenten Transformationen, wenn nicht gerade Umwertungen, mit denen er das existentielle Denken verändert hatte. Jaspers trennt jenen existentiellen Komplex in zwei Teile, der traditionell nicht nur zusammen gehörte, sondern der in seiner Einheit das existentielle Denken selber ganzheitlich ausgemacht zu haben schien. Er unterscheidet das Moment der Sinngebung von der engeren existentiellen Dimension! Durch die Gegenüberstellung der philosophischen Sinngebung und der philosophischen Existentialität sprengt Jaspers die grundsätzliche Selbstidentifizierung des existentiellen Denkens, denn das existentielle Denken zeichnete sich durch jenen Zug aus, dass es keine Sinngebung von aussen akzeptiert; der existentielle Ausgangspunkt ist insofern auch eine negative Bestimmung, der die provokative Negation jeglicher von aussen kommenden Sinngebungsversuche ankündigt.

Der zweite Zug von Jaspers’ Philosophie besteht in der Relation der Wissenschaft und der Philosophie. Beide Seiten der Relation Wissenschaft - Philosophie sind im zwanzigsten Jahrhundert einmalig, beide Pole dieses Zusammenhanges sind gleich relevant. Nicht allein die deutliche Priorität der Philosophie, sondern auch der gleichzeitige und vollkommen durchsichtige Normativitätsanspruch dieser Priorität faellt auf. Überhaupt ist eine so transparent gemachte zentrale Position der Normativität ein seltenes Ausnahmephänomen.

Die dritte typologische Eigenart würden wir als Perspektivismus bezeichnen. Diese Kategorie hat vorläufig nur den Namen mit Friedrich Nietzsches grundlegendem Konzept des philosophischen Perspektivismus gemein. Die perspektivistische Eigenschaft von Jaspers besteht darin, dass das sich in steter Bewegung befindliche Denken angesichts neuer Ideen und Erkenntnisse gleich auch neue Wege für das Nachdenken und die Nachforschung eröffnet.

Diese Philosophie definiert sich im Kontext einer Krise. Diese zivilisatorische Krise schlägt sich vor allem in dem vermutlich umfassendsten Moment der Sinngebung selber nieder.

Das spezifische Nebeneinander der drei grossen Problemgebiete (Sinngebung - Existentialität bzw. Sinngebung - Normativität, Relation Philosophie - Wissenschaft, problemorientierter Perspektivismus) kann auch noch die Frage aktualisieren, ob es hier nicht um eine Verselbständigung der Funktion der Sinngebung im Zeichen einer neuen philosophischen Disziplin geht?

In dieser grosszügigen Leichtigkeit, den Gesichtspunkt der Sinngebung in den Mittelpunkt zu stellen, steckt gewiss ein Moment der Transzendierung der jeweiligen Fragestellung oder des jeweiligen Tatbestandes. Ohne Zweifel verleiht diese direkte Nähe des Universalismus der Philosophie Jaspers’ eine Ähnlichkeit mit dem religiösen Denken.

Ein weiteres umfassendes philosophisches Gebiet, die Existenz, ist es, in deren Tiefe, oder wie wir es sehr bewusst nennen möchten, in deren „Werkstatt” die Kräfte und Motive immer von neuem entstehen, die im Gebiet der philosophischen Sinngebung landen. Die wirkliche Existenz bei Jaspers ist vielleicht die tiefste und die stärkste Werkstatt jeden Denkens. Uns liegt viel daran, dass man unter „Werkstatt” wirklich einen arbeitsorientierten adäquaten Raum für „Produktion” versteht. Sinngebung tritt bei Jaspers nie als äussere Forderung auf.Jaspers’ Lösung unterstreicht in diesem Vergleich den selbstverständlichen Zug der Freiheit und der Autonomie seines Philosophierens. Diese Einstellung gilt auch als Schulbeispiel einer von innen gelenkten protestantischen Denkweise. An die Stelle der von aussen uns aufoktroyierten Sinnmuster entsteht das Bedürfnis nach dem Sinn von innen - aber auch von innen aufgrund der unaufhörlichen Arbeit der inneren Existenzialität in ihrer virtuellen Werkstatt.

Die Sinngebung ist aus den drei umfassenden philosophischen Problemgebieten auch das primäre und bestimmende. Man könnte es auch so ausdrücken, dass bei Jaspers die Philosophie dort anfängt, wo die Sinngebung auftritt. Keine Philosophie ohne Sinngebung – der Satz liesse sich perspektivisch auch umkehren – kein Ansatz, der ohne Sinngebung auskommt, kann Philosophie in ihrer Grundbedeutung werden. Jaspers nimmt auch Risiken auf sich, die Sinngebung so intensiv als die fundamentale Funktion der Philosophie herauszustellen.

Zu dieser Aufwertung und damit Ausdehnung der Sinngebungsproblematik gehört aber auch, dass die Sinngebung auch dem denkerischen Prozess vorangehen kann. In diesem Sinne bereitet es Jaspers auch kein sichtbares Problem, die grosse Philosophie aus der Problematik der menschlichen Grösse ausfliessen zu lassen. Jaspers artikuliert Philosophie, als er die in der menschlichen Grösse versteckten normativen Momente ins Gebiet der Philosophie hinüber transponiert, es ist somit schon auch ein konkretes Beispiel dafür, welche konkreten Denkwege dieses Philosophieren einschlagen kann.

Die Kluft zwischen Normativität und Positivität überbrückt Jaspers bewusst und absichtsvoll. In der ersten Linie so, dass er das in der Normativität enthaltene subjektive Element mit geduldigen Schritten in Objekt-Subjekt- und Subjekt-Objekt-Relationen verwandelt. Dieser sichere Gang zwischen Normativität und Positivität ist einmalig in der modernen Philosophie. Das Einmalige in diesem Verfahren ist, dass es auf der fundamentalen Ebene das Unvereinbare vereinbart.

Kein Zweifel jedoch, dass diese Legitimierung der Semantik jeder Thematisierung der Sinngebung bzw. der Normativität vorangehen muss. Woher also die einmalige Anziehungskraft dieses alternativen Ausgangspunktes bei Jaspers? Ganz allgemein und ganz „platonisch” gesagt: Jaspers verkörpert einen anderen optimalen Ausgangspunkt, der im Geiste den grössten Philosophien überhaupt nicht so fern stand. Jaspers vertritt den archetypischen Ausgangspunkt, der in seiner wirklichen Tiefe schon auch der Religion nahe kommt und der in direkter Form seit der Notwendigkeit der Legitimierung der eigenen Semantik nicht mehr unmittelbar formuliert werden kann. Jaspers nimmt scheinbar keine explizite Kenntnis von seiner einmaligen Position. Die Verknüpfung von Normativität und Sinngebung erscheint als eine unmittelbare Einsicht in den Gang der Welt, auch wie eine neue Form der philosophischen Unmittelbarkeit, nur in diesem einzelnen Zug selbst Schellings „unmittelbarer Anschauung” ähnlich. Dieser Ansatz ist insofern auch literarisch, wie von der Höhe eines welthistorischen Individuums wie Goethe und Schiller, es fehlt ihm allerdings das zumindest seit Nietzsche gewohnte Element der persönlichen Leidenschaft bzw. des Voluntarismus.

Diese Suggestion der philosophierenden Persönlichkeit, die ein Moratorium schafft, macht das scheinbar Unmögliche, das Überspringen der Legitimation der eigenen Semantik, möglich. Diese Grosszügigkeit erweckt Vertrauen in dieses ungewöhnliche Unternehmen. Jaspers wählt Normativität als philosophischen Ausgangspunkt. Jaspers’ Ausgangspunkte sind keine „Lösungen”, sondern „Neuanfänge” in einer erstaunlich traditionell scheinenden philosophischen Form.

Zum Erfolg dieses Ansatzes brauchte Jaspers eine Fähigkeit, möglicherweise auch philosophisches Charisma, jenes Moratorium aus dem Leser hervorzurufen, diesen Ausgangspunkt vorläufig zu akzeptieren, auf die philosophischen Ergebnisse von Jaspers zu konzentrieren und den Anspruch auf die Legitimierung der Semantik provisorisch aufzuschieben.

Jaspers’ Philosophie konnte diesen Ansatz erfolgreich ausführen, weil gerade an der Wende der zehner und zwanziger Jahre des 20.ten Jahrhunderts die Erwartungen nach einer „direkten“ Ontologie und die vielfachen und welthistorisch-psychologisch motivierten Frustrationen über die „unproduktiven erkenntnistheoretischen” Ansätze neokantianischer Provenienz auf ihrem Höhepunkt standen. In Gesellschaft von Heidegger, Scheler oder Hartmann erscheint dieser einmalige Ansatz wie eingebettet. Diese atypische Systematik dürfte mit seiner ebenfalls sehr eigentümlichen und verblüffend interessanten Nietzsche-Deutung in Verbindung steht. Denn obwohl Nietzsche die Erkenntnistheorie überhaupt nicht vernachlässigt hat, rekonstruiert Jaspers seinerseits seinen grosszügigen Nietzsche auch ohne sie. Sein Nietzsche ist auch ein Philosoph, der letztlich das Ganze unter den Aspekt der philosophischen Nornativität stellt, ohne seine Semantik im vorhinein erkenntistheoretisch legitimiert zu haben.

Die Sinngebung füllt den Bewegungsraum der Existentialität nicht auf, sie bestimmt ihn aber grundsätzlich. Die Existenz ist auch ein Produkt der Sinngebung, während die Sinngebung auch in der „Werkstatt” der Existenz immer neu entsteht. Diese Differenz von Existentialität und Sinngebung ist relevant, weil Existentialität und Sinngebung in der philosophischen Tradition mehr oder weniger als das selbe Phänomen angesehen werden. In diesem Kontrast kann Jaspers’ Lösung beide Momente in neuem Licht zeigen - die Existenz, die nicht mehr in der Sinngebung aufgeht, oder die Sinngebung, deren Favorisierung die Existentialität kritisch unterdrückt. Die philosophische Existentialität gewinnt ihre positive Bestimmung dadurch, dass sie bei der operativen Bestimmung ihrer Attribute jede konkret-sachlich-historisch motivierte Determination hinter sich lässt. Existenz in diesem Sinne ist eine Befreiung der Subjektivität von jeder konkreten kontingenten Bestimmung. Der Mensch, der etwa dem Steueramt gegenübersteht, kann kaum existentiell in philosophischem Sinne analysiert werden.

Die philosophische Sinngebung ist das Gegenteil der leer gewordenen Existentialität, sie ist inhaltlich reich bestimmt. Die bestimmenden Attribute des Menschen werden bei der existentiellen Fragestellung abgelegt, im Falle der Sinngebung sollten sie mit den Attributen des konkreten Sinnes im Gegensatz dazu, aufgenommen werden. Der Weg zur Existentialität führt in die letzten Tiefen des Individuums, der Weg zum Sinn führt zu ökumenischen, universalistischen, gesamtmenschlichen Werten und Gütern. Diese Nähe von Existentialität und Sinngebung versieht die philosophisch interpretierte Existenz mit neuen Zügen. Die Sinngebung beeinflusst die Existentialität auf eine „tacit”(e) Weise, auch wenn deshalb die ursprüngliche Bestimmung derselben noch nicht unbedingt anders wird. Es heisst also, dass diese Existenz (in der Nähe der Sinngebung) durch unser Schicksal, unser Wissen, unsere Erfahrungen, unser Denken mehr inhaltlich bestimmt wird.


 

Lieber komplex als einfach - 3 Skizzen

Uwe Dörwald, Worms, Dez.2021

Skizze 1: Anfang oder Mitte der 1980iger Jahre hatte man an der Universität Heidelberg, - wenn man als Student von der Physik kam, Interesse an Erkenntnistheorie hatte, und Germanistik sowie Philosophie studierte und wenn man am Philosophischen Seminar etwas über Erkenntnistheorie hören wollte -, die Wahl: Man konnte entweder die Vorlesungen von Erhard Scheibe besuchen, dessen Buch Die Philosophie der Physiker ich auch heute immer noch schätze, oder man konnte die Vorlesung zur Erkenntnistheorie von Karen Gloy hören. Obwohl Gloy unter Studentinnen und Studenten nicht als einfach galt, weshalb einmal eine ihrer Vorlesung mit nur drei(!) Hörern startete, entschied ich mich irgendwann für die Vorlesung(en) von Karen Gloy.

Sie legte ihren Gegenstand weit(er) aus und verstand es, die Linien der Erkenntnistheorie und auch die der Bewusstseinstheorien von der Antike bis in die Gegenwart nachvollziehbar darzustellen, mit allen Verzweigungen und Verästelungen. Die Mitschriften dieser Vorlesungen sind gut archiviert und werden gelegentlich sogar noch benutzt. Die Analyse der Begrifflichkeit, die Explikation ihres Denk-Gegenstands war (und ist) eine ihrer Stärken. Man erlebte eine Philosophin beim Philosophieren. Denken war das, was man lernte.

Skizze 2: Nach dem Studium habe ich Karen Gloy und ihre philosophische Arbeit so gut wie nie aus den Augen verloren. Ich erinnere mich an einen Besuch in ihrer HD-Neuenheimer Wohnung und daran, dass ich mich darüber gefreut habe, eine längere Rezension über ihr zweibändiges Buch Das Verständnis der Natur im Programm von HR2-Kultur untergebracht zu haben. Das Verständnis der Natur schätze ich immer noch sehr, weil es sich neben der Geschichte des wissenschaftlichen Denkens auch mit der Geschichte des ganzheitlichen Denkens befasst. Hier waren schon spätere Themen wie Komplexität oder Interkulturalität oder Kulturüberschreitende Philosophie angelegt. Im Rückblick wird das philosophische Programm von Karen Gloy deutlich und sichtbar, auch ihr Begriff von Philosophie, die sie später in ihrem Rilke-Buch als eine Art Scharnier zwischen Wissenschaft und Dichtung sieht. Auch hier ein ganzheitlicher Blick: Wissenschaft, Dichtung und Philosophie haben eigene Erkenntnisweisen.

Aber auch das ethische Thema der Gerechtigkeit oder große Themen wie Wahrheit und Zeit gehören zum Spektrum der Philosophin, die in Luzern einen Lehrstuhl inne hatte und von dort aus auch in die Welt ging. Zahlreiche Gastprofessuren zeugen von ihrer intellektuellen Neugier und Offenheit sowie von Welterfahrung. In zahlreichen Passagen ihres Werkes wird sie nicht müde, dafür zu werben, dass es neben unserem eurozentristischen Denken auch andere Weisen von Welterfahrung gibt, die mit Recht und Argumenten Geltung beanspruchen können. - Ein Beispiel ihrer Neugier ist die Phase ihres Lebens, in der sie, schon emeritiert, temporär den Schreibtisch gegen ein Kanu eintauschte und auf Entdeckungsreise im Urwald in Westpapua ging. Wir sahen erstaunt und überrascht eine Philosophin, die klassisch mit Kant in ihre akademische Laufbahn startete und sich mit einem Mal Unter Kannibalen befand.

Ihre letzten Bücher über Demokratie in der Krise oder über Wahrheit und Lüge nehmen neben anderem auch eindringlich Bezug auf unsere Gegenwart; Phänomene wie Corona und Fake News finden ihren Niederschlag im Werk.

Skizze 3: Viele Bücher von Karen Gloy wurden seit 2004 auf www.schwarz-auf-weiss.org besprochen und einige Beträge von ihr selbst sind auch bei uns erschienen, so wie zum Beispiel ein schöner Beitrag über Camus oder über das Verhältnis von Wirtschaftssystem und Lebenswelt.

In meinem Philosophieregal nehmen die Werke Gloys einiges an Platz ein und keines der Gloy-Bücher teilte das Schicksal anderer Autorinnen oder Autoren, die Platz machen mussten und aussortiert wurden. Unsere Wohnung ist keine Bibliothek, hat aber eine, wenn auch eine begrenzte.

Ich freue mich immer über die kurzen und knappen Mails, in denen Karen Gloy persönlich eine Neuerscheinung ankündigt. Dann ist klar, es gibt wieder interessanten Lesestoff. Über Fragen zu manchen Passagen und an Kritik zu Aspekten, die mir als Rezensent der Bücher nicht ganz einsichtig erschienen, hat sich mit der Zeit ein schöner Mailwechsel und ein Gespräch entwickelt. Dabei hat mir Karen Gloys Sachlichkeit sehr gefallen, mit der sie auf die kritisch diskutierten Punkte in ihren Texten einging.

So würde ich heute sagen, das Gefühl aus der Studienzeit, es mit einer nicht einfachen Philosophin zu tun zu haben, die auch kühl und distanziert wirken konnte, ist erweitert worden durch die Herzlichkeit einer vortrefflichen Gastgeberin und Gesprächspartnerin.

*** Herzlichen Glückwunsch ***