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Vom Individualismus zur Hybris

Individualismus auf dem Seziertisch einer Philosophin: Warum man Karen Gloys Buch „Die Selbstsuspendierung des Individualismus“ lesen und zur Kenntnis nehmen sollte

von: Uwe Dörwald

Für den Gebrauch von Schrauben gibt es im Handwerk den schönen Satz: Nach ‚fest‘ kommt ‚ab‘. Dieser Satz scheint übertragbar zu sein auf die Entwicklung des Begriffs Individualismus.

Schon in ihrem letzten Buch „Demokratie in der Krise?“, das hier auch besprochen wurde, trat die Philosophin Karen Gloy als Mahnerin auf. Dort war die Corona-Krise der Auslöser bzw. der Anlass für ihre Überlegungen bezüglich der Effizienz unserer demokratischen Systeme im Vergleich mit anderen politischen Systemen. In ihrem neuen Buch „Die Selbstsuspendierung des Individualismus. Eine Auseinandersetzung mit unserer westlichen Kultur“ (2021) geht ihre Kritik an unserer Art der Gesellschaft tiefer bzw. an die philosophischen Fundamente.

Der Anlass oder der Bezugspunkt ist ähnlich wie in Demokratie in der Krise. Auch in Suspendierung des Individualismus beginnt die Philosophin mit einer Beschreibung des Ist-Zustands. Dieser besteht für sie u.a. in einer Art Wischiwaschi-Politik, die sich treiben lässt durch die berechtigten oder unberechtigten Ansprüche von Subkulturen. Dabei verlangt jede Subkultur, und sei sie noch so klein und unbedeutend, ein Mitspracherecht auf der Bühne der Politik, was entfernt an Hermann Brochs Essay über den Zerfall der Werte erinnert, in dem beschrieben wird, dass jedes gesellschaftliche Subsystem seine eigenen Gesetzmäßigkeiten und Logiken ausbildet und es keine übergeordneten Werte und kein übergeordnetes Wertsystem, im Sinne eines Absoluten, mehr geben kann.1

Dieses nicht neue Phänomen, das oft in Krisensituationen zu beobachten ist, benennt die Soziologie als life politics, die neben oder – extremer - anstelle der in größeren Zusammenhängen agierenden Staatspolitik besteht und durch die Projekte des Gemeinwohls über Jahre und Jahrzehnte blockiert werden (können). Bei dieser Art der Politik stehen sich eigensinnige und eigennützige Interessen und Interessen des Gemeinwohls gegenüber. Eine Gesellschaft zusammenzuhalten, in der jeder Einzelne nur noch größtmögliche Freiheitsgrade anstrebt und nichts mehr von Verantwortung oder von gemeinsamen und gesellschaftlichen Zielen hält oder wissen will, wird schwierig.

Gloy macht für den Prozess des Zerfalls der Gesellschaft, für den Verlust der Kraft der westlichen Demokratien eine Entwicklung in der Philosophie mitverantwortlich, die eigentlich und ursprünglich, treibt man es nicht auf die Spitze, eine starke emanzipatorische Kraft hat. Individualismus oder, salopp gesagt, das auf die Spitze getriebene Pippi-Langstrumpf-Prinzip „Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt.“ führt - im Extremzustand - zu einer entsolidarisierten Gesellschaft, zu einem Zustand des bellum omnium contra omnes. Andererseits: Der Kommunismus Stalins mit seinem in der Ideologie hoch gehaltenem Wert der Solidarität ist keine Alternative, wie der Historiker Karl Schlögel in seinem Buch Terror und Traum (2008) anhand einer historischen Momentaufnahme aus dem Jahr 1937 im Detail zeigt. Die dort beschriebenen Säuberungen in bzw. der dort beschriebene Terror auf allen gesellschaftlichen Ebenen geschehen mit purer Willkür und werden u.a. legitimiert mit dem politischen Traum von einem neuen (sozialistischen) Menschen. - Diese Art von politischem System ist (war) ebenso wie der Faschismus definitiv keine Alternative zu einem freiheitlich und individualistisch ausgerichteten politischen System. Es scheidet aus als Kandidat auf der Suche nach politischen Alternativen. - Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich führe die Beschreibungen und Analysen Schlögels an dieser Stelle nur deshalb an, um darauf hinzuweisen, dass vielleicht jedes Prinzip sich zu seinem Gegenteil verkehren bzw. zu einer Hybris werden kann, im Sinne von: gut gemeint, aber schlecht gemacht. Die Philosophin Gloy aber begibt sich gar nicht in erster Linie oder konkret in die Sphäre des Politischen. Die Deskription der gegenwärtigen politischen bzw. gesellschaftlichen Lage, die wir zum Teil schon aus „Demokratie in der Krise?“ kennen, nimmt sie vielmehr zum Anlass und zum Ausgangspunkt ihrer vortrefflichen Analyse des Individualismus, um im Fortgang des Buchs auf Paradoxien des Individualismus hinzuweisen.

Bleiben wir also beim Thema Gloys und bei einer Gesellschaft, die den Individualismus auf die Spitze treibt. In dieser gilt und ist vollbracht, was M. Thatcher einst mit ihrem so prägendem wie prägnantem Satz „Die Wirtschaft ist die Methode. Das Ziel ist, Herz und Seele zu verändern.“ anstrebte und womit sie einerseits abstrakt dem Neoliberalismus den Boden bereitete und andererseits konkret die Gewerkschaften in Großbritannien zerschlug, und damit – für alle sichtbar – das Prinzip der gelebten Solidarität nicht nur angriff und in Frage stellte, sondern nachhaltig schwächte. Bildlich gesprochen: Nicht mehr Alle wollen und sollen an dem Tau ziehen, das eine Gesellschaft voranbringen und (weiter)entwickeln könnte; der Einzelne zieht fortan vielmehr nur noch seine je eigenen Fäden, nämlich die, die ihm selbst nutzen. Wer keinen Faden mehr in der Hand hat, ist verloren und wird auch nicht gesehen. Die Folgen dieser Politik von Thatcher, Reagan und auch Schröder spüren wir noch heute; so kann es nicht zuletzt während einer Pandemie nicht gut oder sinnvoll sein, aus rein wirtschaftlichen Gründen Krankenhäuser zu schließen, ganz abgesehen davon, dass es sowieso seltsam ist, wenn etwas so essentielles wie Gesundheitsfürsorge privatwirtschaftlich organisiert ist. Die Folgen dieser Politik sind nebenbei bemerkt auch ein Grund, weshalb die SPD nicht mehr auf die Beine kommt. Der Entsolidarisierungsprozess der Gesellschaft, der durchgedrückt wurde zugunsten eines an den Trickle-Down-Effekt glaubenden und egoistisch agierenden ökonomischen Systems, wird ihr nicht verziehen (werden können).2

Eine derartige Situation ist für Karen Gloy Grund genug, sich eingehend mit der als Phänomen vorgefundenen und beschriebenen Situation zu befassen. Dabei identifiziert sie, wie gesagt, die Entwicklung und das Wirkmächtig-werden des Individualismus als ein nicht nur philosophiegeschichtlich mächtiges Prinzip. Individualismus als philosophischer Leitbegriff der Moderne liegt auf ihrem Seziertisch.

Die Motivation für Gloys Auseinandersetzung mit unserer westlichen Kultur ist meines Erachtens eine tiefempfundene Sorge, – die Rolle der Kassandra will sie mutmaßlich weder an- noch einnehmen(!), - darüber, wohin uns ein überdrehter oder überhitzter Begriff des Individualismus führen kann; denn, so schrieb Heidegger, „das In-der-Welt-sein (ist) wesenhaft Sorge ( )“und „Realität ist …. auf das Phänomen der Sorge zurückverwiesen.“

Philosophiegeschichtlich kompetent setzt sich Gloy im äußerst starken ersten Teil ihres Buches mit der Entwicklung des Individualismus auseinander. Sie beginnt die Explikation des Individualismusbegriffs mit der Antike. Dort gilt folgendes: „Die homerische Welt lebt von einer Makro-Mikrokosmos-Analogie, derzufolge alles, was auf Erden geschieht, auf dem Olymp – der Welt der griechischen Götter – vorherbestimmt und vorentschieden wurde. Was an Taten, Ereignissen, Prozessen, Entscheidungen, Verkündigungen erfolgt, ist prädestiniert. Alle Pläne und ihre Ausführungen werden auf dem Olymp zwischen den Göttern ausgehandelt, von ihnen getroffen und vollzogen, die Menschen sind lediglich ihre Ausführungsorgane. Sie gleichen willenlosen Marionetten am Gängelband der Götter. Sie sind fremd-, nicht selbstbestimmt, nicht frei; sie sind Vollzugsorgane fremder Mächte …“ Eine Folge hiervon ist, dass den Menschen, weil sie fremdbestimmt sind, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung fehlen. Von einem autonomen Wesen kann man noch nicht sprechen. Weiterhin werden die Menschen typenmäßig beschrieben, nicht individuell. Sie verkörpern generelle und bestimmte Eigenschaften.

Im 6./5. Jahrhundert v. Chr. wandelt sich dann etwas im Weltbild. Es beginnt so etwas wie eine Herauslösung des Menschen aus einer höheren, göttlichen Ordnung, eine Art Befreiung von einengenden Bindungen, die auf eine Verselbstung und Autonomie weisen, wenn auch noch nicht in einem modernen Sinn von Freiheit und Autonomie. Und durch ein Erstarken der Abstraktion und Rationalität gegen die sinnlichen und triebhaften Kräfte wird ein Weg frei zur Logizität, zu einem noch zaghaften Logozentrismus des Abendlandes.

Eine weitere Entwicklung, ein weiteres Motiv ist das „Heraustreten aus einer vorgegebenen allgemeinen Ordnung, die Vereinzelung des Menschen und Verselbstung des Menschen mit dem entsprechenden Bewusstsein der Selbstherrlichkeit, was wir Hybris nennen und sich gleicherweise als Triumph wie als Tragik und Geißel des Abendlandes erweisen wird. Mit ihr sind Glanz und Elend verbunden, Glanz insofern, als die Verwirklichung der Autonomie von der Größe des Menschen zeugt, und Elend insofern, als der Mensch immer auch ein naturgebundenes, von seiner Anlage her auf Anderes angelegtes Wesen bleibt, was ihm die Endlichkeit und Beschränktheit seines Handelns vor Augen führt. Er wird sich niemals, wie Descartes meinte, zum maître et posesseur de la nature aufschwingen können …“ Wichtig in diesem Prozess ist „die Wendung von der sinnlichen, auf Äußeres gerichteten Erkenntnis ins Innere zum Intellekt oder Logos, der die Sinne zu interpretieren hat.“ Das Ich erforscht sich fortan selbst.

Auch die christliche Religion brachte einen Schub in Richtung Individualität. Gott schaue in die Herzen der Menschen, also in das Innerste eines jeden, gleichgültig, ob in der Gesellschaft hoch oder tief gestellt. Ideell war damit eine Gleichstellung aller Menschen proklamiert, andererseits ethisch-moralisch eingeleitet, dass jeder Mensch für sein Leben, sein Handeln und seine Entscheidungen selbst verantwortlich war. Ein weiterer Aspekt ist, dass der Mensch im christlichen Weltbild trotz seines Andersseins als göttlich bzw. gottgleich gesehen wird. Es ist diese christliche Interpretation, die die gesamte abendländische Geschichte bis heute bestimmt und im Persönlichkeits- und Selbstidentitätsverhältnis immer wieder durchschlägt. Sie macht verständlich, dass der Mensch sich zum Herrn über die Natur aufschwingt. Der Mensch herrscht über die Natur.

Im weiteren Verlauf des ersten Teils beschreibt Gloy, welchen immensen Schub die Renaissance dem Individualismus gab und wie sich dieser in der Renaissance ausprägte und die Neuzeit einleitete. Ehrgeiz, Leistungswille, die Sucht nach Anerkennung und Ruhm, nach Macht und Herrschaft sind in der Renaissance starke Treiber, insbesondere in der Kunst. „Man will unter allen Umständen imponieren, beachtet und berühmt werden und glänzen. Eigenschaften wie Minimalistik, Einfachheit, Reduktion, Alltäglichkeit sind verpönt, stattdessen wird nach Größe, Macht und Schönheit gestrebt.“ Es gibt aber eine Differenz zwischen dem „Individualismus, der sich in der Renaissance herausbildete und die Neuzeit einleitete und dem Individualismus der auf christlichem Boden erwuchs. Basierte dieser auf dem religiösen Gefühl, dass alle Menschen (Individuen) vor Gott gleich seien, so betont der Individualismus der Renaissance die Einmaligkeit und Unwiederbringlichkeit des über alle anderen hinausragenden gottgleichen Menschen. Das Paradigma ist der alle anderen überragende Schaffende, sei es der Künstler oder der Staatsmann, der aufgrund seiner Leistung, seiner Kreativität und seines Durchsetzungsvermögens geschichtlich einmalige Werke hervorbringt.“ - Hier kehrt sich die Unterwerfung unter die Natur um in eine Herrschaft über die Natur.

Des weiteren sieht man an diesen Entwicklungen, dass es zwischen Antike und Neuzeit einen Akzentwechsel gab: Die Antike war grundsätzlich objektivistisch und seinsorientiert, die Neuzeit hingegen lässt sich als subjektivistisch charakterisieren. Zu der Charakterisierung gehört auch, dass Begriffe wie Bewusstsein und Selbstbewusstsein eine Rolle zu spielen beginnen und auch Descartes cogito ergo sum und die Philosophie Kants gehören hierin. Mit dem Erstarken des Ichs bewegen wir uns aber auch auf das zu, was der Philosoph Picht als Denkkäfig des Selbstbewusstseins beschrieben hat.

Die Philosophie Nietzsches, - die in unserer post-modernen Zeit niemand ignorieren kann und in der alle Wahrnehmungen, alle Erkenntnisse, alles Wissen nicht Wahrheit(en) sind, sondern Interpretationen und in der wir bezogen auf die moralischen Werte der Ethik eine Aussage finden wie die, dass es gar keine moralischen Handlungen giebt: sie sind vollkommen eingebildet -, stellt eine Art Endpunkt in der Entwicklung des Individualismus dar. Denn die „Quintessenz dieser Konzeption ist, dass es weder Tatsachen noch moralische Werte noch Gottesvorstellungen an sich gibt, vielmehr alles Interpretation ist. Und so sagt Nietzsche: Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen.“3 – Damit sind wir bei der Explikation des Begriffs des Individualismus in der Post-Moderne angekommen, die neben anderem bestimmt ist durch zwei Formen des Individualismus, nämlich durch den Egoismus und durch den Narzissmus. „Egoismus ist ‚in‘, Verzicht und Zurückhaltung sind ‚out‘.“

Gloy beschreibt den Egoismus u.a. als einen Trieb zum Selbsterhalt, der sich in Heideggers Formel von „Erhaltungs-Steigerungs-Bedingungen“ zusammenfassen lässt, der aber auch sein Gegenstück in der Solidarität als Gemeinschaftsgefühl hat. Am offensichtlichsten aber zeigt sich der Egoismus in einer entfesselten Ökonomie, in der der Markt oder die ominöse unsichtbare Hand alles richten soll.

Im zweiten Teil des Buches, wo es um die Paradoxien des Egoismus geht, hält Gloy dem Egoismus mangelnde Aufopferungsbereitschaft, mangelnde Hilfsbereitschaft oder auch fehlende Zivilcourage entgegen. Auch das Phänomen, dass durch das Internet alles Wissen der Welt jedem zu jeder Zeit zur Verfügung steht, führt nach Gloy zu einer bestimmten Art von „Vielwisserei (Polypragmasie), die sich für allwissend und omnipotent hält und sich dem Anderen, auch Gebildeteren und Weitsichtigeren gegenüber gleichrangig fühlt. Niemand lässt sich heute noch etwas sagen; keine Autorität, keine geistige Rangordnung wird mehr anerkannt. Achtung, Respekt, Ehrerbietung, ja Ehrfurcht, Verehrung, Demut, die alle auf geistig-seelischen Bindungen und Abhängigkeiten basieren, sind obsolet geworden; Bindungslosigkeit und Isolation sind an ihre Stelle getreten.“ Vielwisserei auf der Basis von Wikipedia kann dabei zu einer nervenden Attitüde werden; denn man hat das vermeintliche Wissen ja weder verarbeitet, noch verstanden. Vom Einordnen und vom Urteilen, also von einer Verarbeitung durch Verstand und Vernunft, braucht man in diesem Kontext gar nicht erst zu reden.

Religiöse Bindungen sind in Auflösung begriffen und auch die Verstädterung der Bevölkerung trägt zu einem Verschwinden von Gemeinschaftsgefühl bei. Hieß es noch bei Schiller: „Alle Menschen werden Brüder.“, so wird Solidarität zu einer Farce: „Von einer weltweiten Solidargemeinschaft kann nicht die Rede sein.“ In einer Gesellschaft der Singularitäten, so stellt Gloy weiter fest, geben wir uns vielen Illusionen hin, darunter der, dass wir frei und selbständig und frei im Denken sind. Wir müssten uns das Maß unserer Fremdbestimmung und der Manipulation unseres Denkens und Handelns bewusst machen, aber wir lassen uns treiben. Gloy ruft hier Heideggers berühmte Beschreibung des Man auf: „Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ‚großen Haufen‘ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden ‚empörend‘, was man empörend findet. Das Man, …, schreibt die Seinsart des Alltags vor.“

Wie schon in „Demokratie in der Krise?“ beschreibt Gloy, dass eine Spaßgesellschaft oder eine Gesellschaft, die einzig auf Lustgewinn aus ist, eine Gesellschaft ist, die einen falsch verstandenen Freiheitsbegriff hat; denn Verantwortung als Begriff, der zur Freiheit gehört, und Solidarität sind dieser Gesellschaft fremd. Sie beschreibt wie auch P. Kondylis4, dass die begrenzten Ressourcen auf der Welt zu Konflikten führen werden, die, wenn überhaupt, nur solidarisch gelöst werden können.

Angesichts dessen, dass wir blind für unser Verhalten sind, kann man sich auch die Frage stellen, welcher grundsätzlichen Lebensausrichtung, welchem Wertsystem wir im Westen (überhaupt noch) folgen. Wir scheinen in einem Denk- und Sprachkäfig gefangen zu sein, dem wir nur entkommen können, wenn wir den Blick frei machen auf andere Formen des Denkens. So wie Gloy schon in ihren zweiteiligen Werk Das Verständnis der Natur(1995) dem naturwissenschaftlichen Denken ein ganzheitliches Denken entgegenhielt, so konfrontiert sie nun und mit guten Gründen unsere post-moderne, westliche Gesellschaft beispielsweise mit Gesellschaften, die schon in der Sprache keine Formen oder Ausdrücke für Individualverhalten haben. Man sieht oder erkennt dadurch, dass Weltbilder und das Sein, das Bewusstsein bestimmen.

Sprachen schaffen Weltbilder. Es ist wichtig zu sehen, dass es neben unserem andere Weltbilder gibt „wie die östlichen und fernöstlichen, die im Gegensatz zu unserem Solidarität und Kollektivität höher gewichten.“ Deshalb ist und bleibt es für Karen Gloy wichtig, die Extreme und die Paradoxien der Begriffe zu beschreiben, die unsere Gesellschaft tief prägen. Das ist eine sinngebende Aufgabe, für unsere Gesellschaft und für die Philosophie.

Als ein Fazit, das wahrscheinlich schon tausend Mal gezogen wurde, lässt sich sagen: Wir müss(t)en aus unseren Filterblasen und Echokammern herauskommen und angesichts der großen Herausforderungen der Klimakrise und des Bevölkerungswachstums wahrscheinlich einen Weg der Selbstbeschränkung einschlagen, was aber schwierig werden wird, weil Selbstdisziplinierung heute mehr denn je keine Tugend mehr ist und der Slogan des Club of Rome - small is beautiful – von 1972 bis heute keine Wirkung gezeigt hat. Die Echoblase der westlichen Kultur ist nicht auf Begrenzung ( ) angelegt, sondern auf das genaue Gegenteil. - Dennoch: Absolute Freiheit ist vielleicht nicht der alleinige oder oberste Wert oder die oberste Idee für den Zusammenhalt von Gesellschaft; gelebte Solidarität als Basis von Gesellschaft und der ehrliche Respekt vor Anderen machen eine gemeinsame Ziel- und Sinnorientierung von Gesellschaft vielleicht erst aus. Freiheit als leitendes Ideal, gelebte Solidarität (und Sorge) aber für die Praxis? Wahrscheinlich aber kommt es nicht darauf an, Freiheit gegen gelebte Solidarität auszuspielen, im Sinne eines entweder-oder, sondern es kommt auf das Maß im Verhältnis von sowohl Freiheit als auch gelebter Solidarität an.

Das Verdienst von Karen Gloys Buch „Die Selbstsuspendierung des Individualismus“ besteht, pointiert gesagt, darin, dass Gloy einerseits deutlich auf die Paradoxien, Pathologien und Anomalien eines ursprünglich emanzipatorischen Begriffs des Individualismus hinweist und andererseits nicht zum ersten Mal mit ihren Büchern für die Kenntnisnahme und die Anerkennung anderer Kulturen eintritt. Immerhin haben wir es in der Hand. Wir könnten lernen und uns für einen anderen Umgang mit Natur und einen anderen Umgang mit anderen, uns fremd erscheinenden Kulturen entscheiden. Vielleicht können wir unsere Denkkäfige verlassen; denn am Gängelband der Götter hängen wir ja nicht mehr.


 

1 siehe hierzu: Uwe Dörwald: Wie der Begriff des Ethischen Bestandteil der Romantheorie Hermann Brochs werden konnte. In: Arbeiten zur deutschen Philologie, 22. Jg., Debrecen, S. 60-82

2 vgl. hierzu: J. Vogl: Das Gespenst des Kapitals; Th. Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert und K. Pistor: Der Code des Kapitals. Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft.

3 An dieser Stelle sollte man nicht unerwähnt lassen, dass das Diktum Alles ist Interpretation wie auch die Devise Anything goes von Paul Feyerabend gewissermaßen Provokationen der Post-Moderne darstellen, auf die zum Beispiel der Erkenntnistheoretiker Markus Gabriel, den die einen für ein Leichtgewicht in der Philosophie halten, die anderen aber für einen Star-Philosophen, mit seinem Programm, eine Art neuen Realismus zu begründen, reagiert. - Bedenklich scheint auch, dass in den Geisteswissenschaften gelegentlich eine Tendenz besteht, Theorien aus den Naturwissenschaften zu übernehmen bzw. zu übertragen und zu einem anderen als dem ursprünglichen Zweck umzudeuten oder in einen der Theorie inkompatiblen Kontext zu stellen. Kritisch wird dieses Vorgehen der Theorie-Übertragung von dem einen in ein anderes Feld der Forschung spätestens dann, wenn die übertragenen und zweckentfremdeten Theorien in den Naturwissenschaften, also in ihrem ursprünglichen Feld, schon verworfen wurden, keine Geltung und keine Bedeutung mehr haben, sie aber in ihrem nicht ursprünglichen Gebiet, den Geisteswissenschaften, immer noch als en vogue betrachtet werden. Heute scheint es angesagt bzw. attraktiv zu sein, die Wendung Alles ist Interpretation durch die des Alles ist ein Narrativ zu ersetzen oder zu ergänzen.

4 siehe hier