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Effizienz als Kriterium für Demokratie

Gedanken zu Karen Gloys Buch „Demokratie in der Krise?“

von: Uwe Dörwald

Eigentlich ist es trivial. Auch weil die eigene Lebenszeit begrenzt ist, muss man sich entscheiden und auswählen, welche Bücher man überhaupt liest und dann hier vorstellt und empfiehlt oder kritisiert. Weder anderen noch sich selbst will man Zeit stehlen. Aber es ist zwecklos, nicht zu suchen, nichts zu wollen, denn wenn man aufhört zu suchen, beginnt man zu finden, und wenn man aufhört zu wollen, dann beginnt das Leben, einem seinen Eintopf einzutrichtern, bis man ihn auskotzt, … (Samuel Beckett, Watt, S.44). Und wenn wir eins nicht wollen, dann ist es Eintopf für unsere Leserinnen und Leser. Wir begeben uns also auf die Suche und wollen Bücher präsentieren, deren Lektüre uns lohnend erscheint, und wir wollen Fragen stellen und möglicherweise auch beantworten; denn „Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ (Ludwig Wittgenstein, TLP, S. 52) Zu diesen Lebensproblemen gehört auch die Frage, was gute (nicht die beste) Politik ist, auch zu Not- und Krisenzeit wie z.B. im Krieg oder während einer Pandemie.

Ein Buch, das Bezug nimmt auf unsere gegenwärtigen Lebensprobleme, ist Demokratie in der Krise? - Überlegungen angesichts der Corona-Krise der Philosophin Karen Gloy. Spätestens seit ihrem m.E. herausragendem Buch Das Verständnis der Natur landen immer wieder Bücher der in Luzern lebenden Philosophin auf meinem Schreibtisch. Betrachtet man ein Werk über einen längeren Zeitraum hinweg, dann stellt man fest: Demokratie in der Krise? ist anders. Hier hat sich im Schreiben von Karen Gloy etwas geändert. Schon mit ihren Büchern Wahrnehmungswelten (2011) und Komplexität – Ein Schlüsselbegriff der Moderne (2014) hat sie sich der Beschreibung unserer Gegenwart und unserem globalisierten Leben, nicht dem Zeitgeist, angenähert. In der Hauptsache aber wollten diese Bücher keine praktischen Anweisungen geben, wie man zum Beispiel der Komplexität in unserem Leben begegnet, sondern sie wollten eine philosophische Analyse auf unterschiedlichen Ebenen bieten.

Bei philosophischen Analysen geht es neben anderem auch um die Herkunft und Geschichtlichkeit von Begrifflichkeit(en) und Theorie(n). Hier hat Gloy ohne Zweifel ihre Stärken. Sie kennt sich aus in der Philosophie und in der Philosophiegeschichte und sie setzt sich mit ihren Büchern auch ein gegen eine einseitige Vernunftauslegung, wie sie zum 'Logozentrismus des Abendlandes' geführt hat, was nicht zuletzt daran liegen mag, dass Gastprofessuren und Vorträge in aller Welt (Europa, Asien, Ostasien, Nord- und Südamerika) ( ) Karen Gloy in Kontakt (brachten) mit heterogenen Kulturen, Mentalitäten und Denkweisen. Erfahrungen also, die sich in ihrem Werk, das klassisch mit Studien zum Deutschen Idealismus begann, niederschlagen. Neben einem profunden Wissen kann Gloy auf Welt-Erfahrung zurückgreifen.

Demokratie in der Krise? ist im Jahr 2020 erschienen und es ist auch im Jahr 2021 noch aktuell. Denn ein Punkt, den Karen Gloy beschreibt und kritisiert, ist die Langsamkeit, um nicht zu sagen die Behäbigkeit oder Trägheit, mit der unsere Demokratie auf die Herausforderungen der Pandemie reagiert, und dies obwohl Beschleunigung und Tempo eigentlich Kennzeichen unserer Zeit sind. Nicht aber unserer politischen Systeme, die sich gerne in alltäglichen Problemen verfangen und in vielen Punkten viel zu langsam und viel zu unentschlossen auf die Herausforderungen der Covid-19-Pandemie reagiert haben.

Gloy stellt die Frage nach der Effizienz unseres politischen Systems– „Wer von Reisen aus Ostasien nach Old England und Old Germany mit ihren Altbeständen und rückständigen Städteplanungen, ihrer veralteten Architektur, dem maroden Verkehrswesen, dem Verschlafen modernen Internets zurückkehrt, wird die Rückständigkeit gegenüber der Hightech Ostasiens nicht übersehen können.“ Sie stellt die titelgebende Frage also auch im Hinblick auf eine – politische - Systemkonkurrenz mit asiatischen Ländern, die zum Beispiel in „der Entwicklung der Informatik, der digitalen Technik, der KI-Forschung und Robotik … Spitzenstellungen ein(nehmen).“ Und sie stellt fest, dass in vielen dieser Länder, obgleich mit harter Hand regiert und teilweise mit dikatorischen Regierungsformen, die Zufriedenheit der Bevölkerung größer ist als bei uns. Beispiele sind Japan, Korea, China oder Singapur. Dies ist zumindest ein Befund, der zum Nachdenken anregen kann. Und um Mißverständnissen vorzubeugen, sei schon hier gesagt, dass Gloy nicht für dirigistische oder diktatorische Regierungsformen plädiert, sondern für so etwas wie eine in Krisenzeiten gelenkte Demokratie. - Fragen kann man sich allerdings grundsätzlich und schon an dieser Stelle, ob Effizienz die passende Kategorie ist, um Regierungsformen zu beurteilen? Salopp gesagt, läuft es doch auf die folgende Frage hinaus: Was ist besser? Eine effiziente Regierungsform mit diktatorischen bzw. schwächer formuliert mit dirigistischen Komponenten oder eine weltoffene Regierungsform, die schwerfällig und langsam ist? Sogleich kommt mir bei einer solchen Alternative Die Welle in den Sinn – Macht (und Effizienz) durch Disziplin. Macht (und Effizienz) durch Gemeinschaft (nicht Gesellschaft). Oder der Umstand, dass in einem in der Pandemie effizienten und an Gemeinsinn orientiertem politischen System schon als Dissidentum gilt, wenn man einen (kritischen) Roman zum Beginn der Corona-Pandemie in Wuhan schreibt. Und auch der Gedanke, dass es für Philosophie, die auch nach Totalität im Sinn eines ganzheitlichen Blicks und Entwurfs strebt, unter Umständen schwer erträglich ist, wenn eine Gesellschaft (nicht Gemeinschaft) Pratikularsysteme mit je eigenen Freiheitsgraden und Betriebssystemen ausbildet, die weder intern noch untereiander frei von Widersprüchen sind. Das gehört in einer liberalen Gesellschaft dazu. Man muss es vielleicht ertragen. Und wenn man schon über die Effizienz von Regierungsformen nachdenkt, dann könnte man auch so etwas wie den Liberalismus der Rechte von Judith Shklar erwähnen, der auch universelle Züge trägt. Dies jedoch nur am Rand.

Im ersten Teil des Buches befasst sich Gloy „mit verschiedenen Gesellschaftsordnungen in ihrer Beziehung zu den in ihnen vorherrschenden Zeitformen“. Relevant ist dies deshalb, weil Zeitformen bzw. Zeitmodelle und unsere Zeit-Erfahrung, unser Erleben von Zeit(verdichtung) auch „Rückwirkungen auf das gesellschaftliche Leben und Handeln haben, auf die Bewältigung oder Nichtbewältigung von Problemen“ in unseren Gesellschaftssystemen. Eine Frage ist, ob die „Hyperakzeleration in der Arbeits- und Lebenswelt und die Globalisierung, die räumlich alle Gebiete umfasst, eine Demokratie noch angemessen erscheinen lässt …“

Im zweiten Teil des Buches folgt eine Analyse der Demokratie. Gemeint ist nicht nur eine Analyse unserer Demokratie, sondern auch eine Analyse dessen, welchen Bedeutungswandel der Begriff Demokratie in der Zeit – von den alten Griechen bis heute - erfahren hat. Hinzukommt eine „Beschreibung und Analyse der Grundbegriffe der Aufklärung – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“. In dieser Beschreibung wird gezeigt, dass diese Begriffe „in einer modernen, globalisierten Welt aufgrund systematischer Widersprüche und Paradoxien, die ihre Disfunktionalität offenbaren, kollabieren“. - Gleichheit, selbst vor dem Gesetz gibt es nur formal und von Gleichheit angesichts einer zunehmenden Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen zu sprechen, ist auch eher zynisch; Brüderlichkeit (Gemeinsinn) steht in Konflikt mit einer Anspruchhaltung auf Selbstverwirklichung und mit der Durchsetzung der je eigenen Interessen (Egoismus); und Freiheit (für alle) scheint auch eher ein Ideal zu sein, betrachtet man u.a. moderne und stillschweigend akzeptierte Formen moderner Sklaverei.

Im dritten Teil des Buches kommt Gloy auf den konfuzianischen Hintergrund asiatischer (auch diktatorischer) Regierungsformen zu sprechen. Dieser Hintergrund verdeutlicht für sie die Differenz zu unserer christlich geprägten Kultur und Orientierung – dabei entspricht der Konfuzianismus eher einer Gemeinsinnorientierung, in der der Einzelne als Einzelner schwach ist; unser Gesellschaftsgefüge stellt demgegenüber stärker das Ich und seine Rechte als das Wir in den Mittelpunkt. Gloy nimmt hier auch Bezug auf „Dekadenz- und Auflösungserscheinungen westlicher Demokratien“, die aus einem „Mißverständnis von Freiheit und Gleichheit“ herrühren und stellenweise echten Gemeinsinn vermissen lassen.

In allen drei Teilen ist das Buch stark in der Analyse und in der Beschreibung der Theorien und Begrifflichkeiten. Gleichzeitig hat es aber auch Brüche, die man in anderen Büchern der Autorin so nicht findet. Diese Brüche stellen sich beim Lesen immer dann ein, wenn die abstrakten, philosophiegeschichtlichen Passagen rückgekoppelt werden auf die Beschreibung dessen, was ist, also auf die Beschreibung unserer Lage. Hier ist ein Niveauunterschied beim Lesen zu spüren zwischen den Bereichen, in denen die Autorin, wenn man so will, zuhause ist und den Bereichen, die zum Beispiel in einer Art illustrativem, feuilletonistischem Stil beschrieben werden und die von Soziologinnen und Soziologen wie zum Beispiel von Andreas Reckwitz oder Naomi Klein, die auf Gesellschaftsanalysen spezialiert sind, weniger plakativ abgehandelt werden. Die Fallhöhe zwischen den Theorieteilen und der Gegenwartsbeschreibung fällt auf, weil auf der Seite der Theorie mit Theorie und auf der Seite der Gegenwartsbeschreibung häufig mit Alltagswissen und gelegentlich auch mit Alltagsweisheiten oder Sprichwörtern, die den Text auflockern, aber den Fluss der philosophischen Argumentation unterbrechen, argumentiert wird.

Sicher ist, dass dieses Wechselspiel zwischen strengen theoretischen Passagen und Passagen, die illustrativ und feuilletonistisch daher kommen, das Buch für ein breiteres Publikum, als ein rein philosphisches Fachpublikum öffnet. Was dieses Wechselspiel zwischen theoretischen und illustrativen Passagen betrifft, schließe ich mich Gertrud Nunner-Winkler an, die im Rezensionsforum von literaturkritik in Bezug auf Gloys Buch Macht und Gewalt über Gloys Methode schrieb: Die Kenntnis früherer Wortbedeutungen ist wichtig für die Entschlüsselung überlieferter Quellen; auch sensibilisiert sie für die Wahrnehmung geschichtlicher Veränderungen. Keineswegs aber sichert sie – wie Gloy unterstellt – ein vertieftes Verständnis heutiger Institutionen.

Sicher ist aber auch, dass Demokratie in der Krise? ein starker Beitrag ist, wenn es darum geht, die politischen Systeme des asiatischen Raums mit unserer Anschauung von Demokratie zu vergleichen. Denn die (nicht nur) wirtschaftlich aufstrebenden Staaten Asiens fordern mit vielen Initiativen wie zum Beispiel dem Projekt der Neuen Seidenstrasse unsere Demokratie heraus. Im Zeichen der Herausforderungen durch knapper werdende Ressourcen (Herausforderung durch die Natur) und einer wachsenden Weltbevölkerung (Herausforderung im Sozialen) bleibt die Frage nach der fähigeren Regierungsform bestehen und offen. Ein Baustein, neben anderen Bausteinen, kann die Lektüre des Buches von Karen Gloy sein, selbst wenn es dadurch provoziert, dass es für eine gelenkte Demokratie, was eine Art politische Zumutung und ein No-Go ist, eintritt, und offen legt, dass unserer weltoffenen und liberalen Demokratie in Not- und Krisensituationen ein rigoristisches, energisches Moment fehlt. Das spüren wir alle, angefangen bei der Impfstoffbeschaffung durch die EU.

Aber, und zum Schluss: Selbst wenn der Vorschlag einer gelenkten Demokratie als Regierungsform politisch ein No-Go ist, so muss er doch Gegenstand einer ernsthaften philosophischen Analyse sein können; Begriffe und ihre Inhalte entwickeln sich im Laufe der Zeit weiter, auch der der Demokratie unterliegt einem Veränderungsprozess. Man muss darüber (ohne Vorurteile und ohne Vorbehalte) nachdenken dürfen. - Was bleibt, ist, dass Gloys Überlegungen angesichts der Corona-Krise in vielen Punkten stichhaltig sind und hinweisen auf systemische, inhärente Mängel unserer Regierungsform.

Ganz sicher bleibt der philosophische Prozess im Fluss - hoffentlich mit Neugier, Wagemut, Experimenten und Ungewißheit, also den Dingen, die immer schon das Interessante an den Wissenschaften waren. (Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen, S. 189)


Als Ergänzung sei noch hingewiesen auf Gloys Buch „Philosphie zwischen Dichtung und Wissenschaft anhand von Rainer Maria Rilkes Duineser Elegien“ (2020), in dem sie den Erkenntnisstatus der Begriffe Dichtung, Philosophie und Wissenschaft auslotet. Hier ist Gloy ganz bei sich und in ihrem Element. Hier passen, wenn man so will, Wahrheit und Methode.


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