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Verschickungskinder

"Luftveränderung tut jedem gut"

von: Uwe Dörwald

Ich war eines der circa acht Millionen Kinder, die bis in die 1980er-Jahre zur Kinderkur in sogenannte Kindererholungsheime verschickt wurden. Ich war Vorschulkind und hatte wie viele andere auch Atemwegsprobleme - „Bronchitis“ / „Asthma“. Erinnern kann ich mich nur an sehr wenig und bruchstückhaft, was, wie Hilke Lorenz, die Autorin des Buches „Die Akte Verschickungskinder – Wie Kurheime für Generationen zum Albtraum wurden“, schreibt, daran liegen kann, dass die kindliche Psyche Mechanismen entwickelt, die einsetzen, wenn Angriffe auf die Seele übermächtig sind. Wenn der Übergriff auf die eigene Integrität sich nicht bewältigen lässt, setzt ein, was die Psychologie Dissoziation nennt. Dann werden nicht nur die Gefühle von dem Ereignis getrennt – sondern auch beides erst einmal aus der zugänglichen Erinnerung verbannt, … die Ereignisse werden fragmentiert. Wenn aber das Geschehen in viele kleine Erinnerungsfetzen zerlegt wird, gibt es kein vollständiges Bild mehr davon. Die Erzählung darüber bleibt zwangsläufig löchrig und fahrig. (S.35)

Die Erzählung über meine Kinderkur ist sehr löchrig. Ich war im Kinderheim (Wyk auf Föhr) eines der kleineren Kinder, ich gehörte in der Kur zu den Bettnässern, ich wurde dafür gehänselt und in die Ecke gestellt. Ich kann mich bewusst eigentlich nur daran erinnern, dass mir die 42 Tage, die von den Krankenkassen für eine erfolgreiche Kur veranschlagt wurden, endlos lang vorkamen. Die einzige schöne Erinnerung ist die an einen Felsen, den wir Kinder Bärenfelsen nannten und der in der Nähe vom Strand zu finden sein muss. Ansonsten überwogen Gefühle wie Verlassenheit und Alleinsein. An Kinderfreundschaften während der Kinderkur kann ich mich nicht erinnern.

Nach der Kur, bevor ich 1964 eingeschult wurde, lag ich erst einmal ziemlich genau 42 Tage lang krank im Bett, erst mit Diphtherie, es gab große Pencillinspritzen, und direkt im Anschluß mit Windpocken. Über den Berg war ich, als mir Kopfsalat mit Zitronensauce und Zucker wieder schmeckte. Daran kann ich mich genau erinnern. Die ursprünglichen Anliegen der Kur, Kräftigung und Abhärtung, schlugen bei mir nicht an.

Was ich damals und auch später nicht verstand, war die Frage, warum meine Eltern mich überhaupt zur Kinderkur geschickt hatten, zumal mein Vater Kinderheimerfahrung hatte.1  Wahrscheinlich, so ist mir heute klar, aus einer Mischung aus Sorge um meine Gesundheit und aus der Idee, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Entlastung für die Mutter und Heilung für das Kind. Beide Aspekte wurden, so lesen wir bei Hilke Lorenz, von Krankenkassen und von Ärzten massiv eingesetzt, um den Familien die Kinderkuren schmackhaft zu machen, besonders natürlich den Familien, die in Städten mit schlechter Luft lebten, was seinerzeit am Rande des Ruhrgebiets ganz sicher der Fall war. Und neben diesen scheinbar rationalen Aspekten wirkten bei vielen Familien, besonders bei denen aus sogenannten kleinen Verhältnissen, natürlich Autoritätsgläubigkeit und Obrigkeitsfurcht. Ein längerer Kuraufenthalt, so wurde meist argumentiert, sei zum Wohl des Kleinen. Zu widersprechen kam ihnen (den Eltern) ( ) bei der Kurverschreibung nicht in den Sinn. ( ) Vor allem Ärzte aber und ihr professionelles Personal genossen (in den 1960er-Jahre und auch noch später) noch immer kuschendes Vertrauen als Autoritätspersonen mit Wissensvorsprung.(S.32f.)

Hilke Lorenz beschreibt in ihrem gut recherchierten Buch über das Schicksal der Verschickungskinder, dass es ein über den Gesundheitszustand der Kinder hinausgehendes Interesse an den Verschickungen gab. In einem Bereicht heißt es: >>(…) ist die Mitwirkung des Arztes bei der bestmöglichen Ausnützung der Kapazität der Heime unerlässlich. Nur der Arzt kann entscheiden, welches Kind sich noch für freie Plätze in dem oder jenem Heim eignet und in welcher Weise unter Berücksichtigung der Jahreszeiten über freie Plätze nach der ärztlichen Indikation am besten verfügt wird. Von der Verantwortung auf die bestmögliche Ausnützung der Heime sollten die Ärzte nicht entbunden werden.<< (S.81) Man kann sagen, dass das Kindeswohl nicht (allein) im Vordergrund stand, sondern dass es um Effizienz bei der Belegung der Heime ging. Mit der Kinderverschickung werde relativ viel Geld umgesetzt, so der Hannoveraner Professor für Kinderheilkunde Kurt Nitsch. (S. 237) Zur Industrie rund um die Kinderkuren gehörten Reiseunternehmen für Kindertransporte, Spezialisten für die Fahrtabwicklung, Ärzte, Krankenkassen, Verbände, Betreiber von Kurheimen und natürlich das Personal in den kirchlichen und nicht-kirchlichen Heimen selbst. Letzteres kümmerte sich in vielen Fällen, wie man den Berichten der Verschickungskinder entnehmen kann, wenig um das Wohl der Kinder, sondern sorgte sich in den meisten Fällen eigentlich nur und verstärkt um einen reibungslosen und störungsfreien Ablauf der Kur. Dazu gehörte auch, dass Besuche von Eltern während des Kuraufenthalts nicht erwünscht waren, Besuche würden den Kurerfolg gefährden; und es war egal, ob die kleineren Kinder ihre Eltern nach dem unendlich langen Kuraufenthalt überhaupt noch erkannten. Zum reibungslosen und störungsfreien Ablauf gehörte natürlich auch das Einhalten von strengen Regeln. Hielt man sich nicht an diese geschriebenen und ungeschriebenen Regeln, dann folgte Bestrafung – immer zum Wohl des Kindes natürlich.

In vielen Fällen waren es NS-Erziehungsmethoden, die durch die Kontinuität des Personals in den Kurheimen, auch denen unter kirchlicher Trägerschaft, fortgeführt wurden. Harte Strafen wie Essen von Erbrochenem, Einsperren im dunklen Keller, miltärischer Drill und Schläge gehörten dazu. Die Kontinuität bei den NS-Erziehungsmethoden und die Kontinuität des Personals, das vielfach schon während der Nazizeit in (Kinder-)Heimen gearbeitet und NS-Erziehungsmethoden verinnerlicht hatte, ist neben den seeelischen Schäden und Deformationen, die viele Verschickungskinder davontrugen, der eigentliche Skandal, den Hilke Lorenz in ihrem Buch beschreibt.

Dem Fazit von Hilke Lorenz bleibt nichts hinzuzufügen: Es gab eine Kurversorgungsindustrie, deren Grausamkeiten die Kinder ungeschützt ausgesetzt waren. Um etwa Genaueres über die Gewinnmargen sagen zu können, müssen die Akten systematisch ausgewertet werden.

Dass Schläge und psychischer Zwang in der Erziehung dieser Zeit üblich waren, entschuldigt nichts. Es macht nur deutlich, wie tief die autoritäre Haltung gegenüber Kindern im Denken noch immer verankert war und dass sie offenbar von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Und es zeigt, dass gelebter Kinderschutz eine Daueraufgabe ist. Der Widerwille mancher Träger, Heime und Aufsichtsbehörden, sich der Aufarbeitrung zu stellen, zeigt, wie wichtig die Erzählungen der Verschickungskinder und anderer Beteiligter sind. Die Berichte dürfen nicht mehr überhört werden. … Und zudem gilt es, wachsam zu sein, wo auch immer Schwächere ( ) Strukturen ausgesetzt sind, denen sie nicht entkommen können.“ (S.295)

Die Akte Verschickungskinder ist ein Buch, das zeigt, wie perfide Schwarze Pädagogik funktioniert(e), und das aufklärt zum Thema Missbrauchskultur in >>Erholungs<←Einrichtungen. Es ist nicht nur eine Pflichtlektüre für Pädagogen, sondern auch für Eltern.


1. Siehe hierzu: Neben der Rute soll stets der Apfel liegen. Eine Kindheit im konfessionellen Waisenhaus vor 1945