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Sapere aude

Wage es, Deinen Verstand zu nutzen

von: Jitka Perina

(c) Jitka Perina

Das Jahr 2021 ist erst einige Wochen jung, und doch überschlagen sich die Ereignisse weiterhin im gleichen Tempo, in dem wir sie Ende 2020 hinter uns zu lassen hofften. Der Wahlspruch der Aufklärung scheint gut zur aktuellen Situation zu passen. Zu Beginn der Aufklärung verbreiteten ihn in erster Linie die Gelehrten, welche unter den Bedingungen der Zensur in monarchisch regierten Systemen arbeiteten. Die Bürger der gegenwärtigen, modernen Demokratien stehen vor anderen Herausforderungen. Die Erlaubnis zum eigenständigen Denken ist, mindestens der Theorie nach, universell. Jeder darf sich selbst ein Urteil bilden. Die entsprechenden Möglichkeiten sind dank der globalen Verfügbarkeit der Information enorm gewachsen, die Komplexität jedoch überwältigt viele Menschen. Damit stehen wir vor einem Paradox. Wir erleben das eigenständige Denken nicht nur in seiner produktiven Dimension, in welcher neue Erkenntnisse generiert und Irrtümer benannt werden, sondern zugleich in seiner destruktiven Dimension, in der Erkenntnisse ignoriert und Irrtümer verbreitet werden. Das eigenständige Denken scheint Segen und Fluch zugleich zu sein.

Die Aufklärung ist kein abgeschlossener Prozess, sie muss immer weitergeführt werden. Hierzu werden selbst denkende Menschen benötigt. An dieser Stelle soll der Aufruf des Philosophen Immanuel Kant erinnert werden, dass keine Generation der nachfolgenden verbieten darf, in der Aufklärung, sprich dem eigenständigen Denken, fortzuschreiten. «Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur». 1

Doch brauchen auch aufgeklärte Gesellschaften Kategorien der Kompetenz und der Expertise, die mit dem Ideal des universalen Denkens des Einzelnen in einem Spannungsverhältnis stehen. Diese Ambivalenz spiegelt sich in gegenwärtigen Diskursen: «Sollen Menschen nicht alles glauben, was in der Zeitung steht, oder Medien bitte doch vertrauen? Sollen Menschen auf die Wissenschaft hören, oder dürfen sie zweifeln? Sollen sie kritisch sein, aber bitte den «Richtigen» gegenüber? Sie sollen denken, aber bitte nicht alles. Sie sollen … ja, was eigentlich?»2

 

Selbst denken bedeutet kritisch denken

In vielen Bereichen des Lebens sind wir darauf angewiesen, Experten zu vertrauen und ihre Urteile über komplexe Zusammenhänge zu übernehmen. Es reicht in vielen Fällen nicht, einfach den eigenen Verstand zu gebrauchen, sondern ist hilfreich oder sogar notwendig, sich des Fachverstandes anderer Menschen oder auch Algorithmen zu bedienen. Das eigenständige Denken beinhaltet dabei die Fähigkeit der Selbstreflexion darüber, was der eigene Verstand leisten kann und worin er begrenzt ist. Niemand ist kompetent in allen Fragen, und niemand kann es sein. Sich selbst reflektierendes Denken ist also kritisches Denken und bezieht sich auf die eigene Urteilsfähigkeit. Deswegen werden wir dabei immer auch mit dem «Fremddenken» konfrontiert. Die entscheidende Frage lautet nicht, ob ich mir in der jeweiligen Lage selbst ein Urteil bilden kann, sondern: Wie kann ich mir darüber ein Urteil bilden, wie sich diejenigen ihr Urteil bilden, auf deren Expertise ich angewiesen bin?

Fragen, welche uns dabei leiten sollten, sind: Welche Methoden verwenden diese Personen, um ihre Erkenntnisse zu gewinnen? Was könnten ihre nicht wissenschaftlichen Interessen sein? In welchen Abhängigkeiten stehen sie? Wie wird die Kompetenz dieser vermeintlichen Fachleute von ihren Kollegen eingeschätzt? Auch Forscher und Journalisten können sich irren, Fehler begehen oder betrügen. Unentbehrlich hierbei ist ein freier öffentlicher Diskurs zu allen aktuellen Fragen. Der blinde Glaube, die Verengung des Blickwinkels oder das Abblocken kritischer Fragen sind vom kritischen Denken weit entfernt. Sich selbst reflektierendes kritisches Denken braucht einen öffentlichen Raum, in dem frei diskutiert werden kann, wo kontroverse Gedanken geäussert werden können, ohne dass man, völlig unreflektiert, als Gegner, Leugner und Verweigerer bezeichnet und in entsprechende Schubladen eigesperrt wird. Einmal dort gelandet wird man jeglicher Chance beraubt, redlichen Widerspruch zu erfahren und den eigenen Standpunkt begründen und vertreten zu können. Den eigenen Standpunkt im freien, offenen Diskurs zu vertreten, ist denkbar anspruchsvoller, als den Andersdenkenden wegzusperren. Wenn dieses geschieht, ist die Freiheit des unabhängigen Denkens ernsthaft in Frage gestellt. Wir halten uns für aufgeklärter, als wir tatsächlich sind. Wir leben in Blasen - umgeben uns mit Menschen, welche ähnlich oder gleich denken wie wir - und suchen damit eine Vereinfachung in der Bestätigung, dass unseres das einzig richtige Urteil sei. Aus Bequemlichkeit und Angst vor der Verantwortung lassen wir andere für uns entscheiden, ohne ihre Absichten kritisch zu hinterfragen. Wir folgen dem Strom, weil andere ihm auch folgen, weil es einfacher ist. Es wird einem gesagt, was zu tun ist. Damit begeben wir uns in Abhängigkeiten, deren Folgen wir nicht einmal erahnen können.

 

Mutig denken

Selbständig Denkender ist nicht derjenige, der bequem in seiner Blase ruht oder auf seinem eigenen Baum der Erkenntnis sitzt, sondern der, der an ihr oder ihm hin und wieder kräftig rüttelt. Der unabhängige Denker unterscheidet sich klar von seinem Gegenpart, dem Dogmatiker. Dessen Motto lautet: Es gilt, weil es gilt. Das Unwort «alternativlos» kennen wir aus dem Mund der höchsten Politikerinnen. Für den frei Denkenden gilt es, den Dogmatiker in jeder Erscheinungsform herauszufordern. Das braucht Mut und Beharrlichkeit. «Denn nichts gilt, weil es gilt. Alles könnte anders sein.»3

Woran sollen wir uns orientieren? Nicht nur die Philosophen der Aufklärung wie Immanuel Kant mahnen zur Tat - zum unermüdlichen Kampf für die Errungenschaften der Aufklärungsbewegung. Auch die Vertreter der stoischen Philosophie geben nützliche Hinweise. Der griechische Philosoph Epiktet weist darauf hin, dass die wesentliche Lebensaufgabe darin besteht, mit dem Gebrauch des eigenen Urteilsvermögens Veränderbares von Unveränderlichem zu unterscheiden. Wir sollen uns auf dasjenige konzentrieren, welches wir verändern können. Das gibt uns Gestaltungsspielraum und Macht.4 Den Stoikern zufolge fusst Macht allein auf dem eigenen Verstand. Den sollen wir nicht aufgeben, sondern trainieren und wachsen lassen. Epiktet rät zudem, Probleme immer bis zum Ende durchzudenken, bevor wir Entscheidungen treffen, nicht dem Aktionismus zu verfallen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Es verringert in drastischer Weise die Anzahl Verpflichtungen, an die wir denken müssen. Anstatt mit einer ellenlangen Liste der Verantwortlichkeiten zu ringen, für die man eigentlich nicht zuständig ist, haben wir nur den einen Fokus, um den wir uns kümmern müssen: sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Hier sollen Bildung und Weiterbildung ansetzen und nicht eine weitere Anhäufung von Informationen liefern, sondern diese Fähigkeiten trainieren und kultivieren.

«Von Rusticus5 lernte ich, auf meine Lektüre eine gewisse Sorgfalt zu verwenden, mich nicht mit oberflächlichem Wissen zu begnügen, nie den Grosssprechern vorschnell meine Zustimmung zu geben»6 schreibt der römische Kaiser und Philosoph Marc Aurel in seinen Selbstbetrachtungen. Wir können seine vertiefte Art des Lesens erinnern und wieder kultivieren, welche uns ermöglicht, aufmerksam Themen zu verfolgen, anstatt uns mit Schlagzeilen überschütten und uns von deren oberflächlichen Aussagen in Unruhe und Angst versetzen zu lassen. Denn genau das sollen sie bewirken. Dies ist kein Spass.

Den Ausgang und die weitreichenden Folgen der gerade erlebten Krise können wir nicht voraussagen. Den eigenen Verstand und das Urteilsvermögen können wir jedoch pflegen. Dafür sollten wir uns einsetzen und dafür sollten wir kämpfen, nicht nur, um der nachfolgenden Generation einen gut weitergeführten Prozess der Aufklärung zu übergeben: auch mit der Absicht, unsere Freiheit und das gute Leben zu bewahren. In diesem Sinn gilt aktueller denn je: Sapere aude – Wage es, Deinen Verstand zu nutzen!


 

1. Kant, Immanuel: Denken wagen. Der Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Stuttgart, 2017, S.12

2. Frick, Marie-Luisa: Mutig denken. Aufklärung als offener Prozess. Reclam, 2020, S. 34

3. Frick, Marie-Luisa: siehe Anmerkung 2; S. 38

4. Epiktet: Lehrgespräche. Epiktet, Teles, and Gaius Musonius Rufus: Ausgewählte Schriften. De Gruyter, 1994

5. Notiz: Quintus Iunius Rusticus war Lehrer des Kaisers Marcus Aurelius

6. Marc Aurel: Selbstbetrachtungen, 1.7.3

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